© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Peuplierung bedeutete nicht Multikulti
Migration in der Frühen Neuzeit: Vergleiche von heutiger Einwanderung mit jener im Preußen des 18. Jahrhunderts klammern viele Wahrheiten aus
Wolfgang Kaufmann

Brandenburg-Preußen wurde im 17. und 18. Jahrhundert mehrfach von Ereignissen heimgesucht, welche zu einer drastischen Reduzierung der Bevölkerungszahl führten. So kam es während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) zu schweren Verwüstungen in der Mark Brandenburg und zum Tode jedes zweiten Einwohners. Wenig später – zur Zeit des Zweiten Nordischen Krieges (1655–1661) – ereignete sich der Tatarensturm, dem allein in Ostpreußen über 100.000 Menschen zum Opfer fielen; weitere 34.000 endeten in der Sklaverei, als die muslimischen Heere des Krim-Khanats im Reich des „Großen Kurfürsten“ marodierten. Und dann war da noch die verheerende Pestepidemie von 1709/10, welche wiederum Ostpreußen und dazu vor allem auch noch Hinterpommern beziehungsweise Preußisch-Litauen traf und ganze Landstriche veröden ließ: damals starb ein Drittel der Bewohner der betroffenen Gebiete.

Diese permanenten Aderlässe führten dazu, daß die preußischen Herrscher zu der Auffassung gelangten, das Wohl und Wehe eines jeden Reiches – und damit auch des ihren – hänge von der Konstanthaltung beziehungsweise Mehrung der Zahl seiner Untertanen ab. Das geht beispielsweise aus dem diesbezüglichen Credo des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. hervor: „Die wohlfahrdt eines Regendt ist das wenn sein landt guht Peupliret ist das ist der rechte reichtuhm eines landes.“ Ganz genauso sah es auch der „Alte Fritz“ in seinem Testament: „Der erste Grundsatz, der allgemeinste und wahrste ist der, daß die wahre Kraft eines Staates in der Volkszahl liegt.“ Deshalb gab Friedrich der Große bereits am 27. Juni 1740, also vier Wochen nach seiner Thronbesteigung, dem zuständigen Minister Samuel von Marschall Order, „so viel Fremde von allerlei Conditionen, Charakter und Gattung in das Land zu ziehen, als sich nur immer thun lassen will“.

240.000 Neusiedler im Preußen Friedrichs II.

Allerdings war diese eindeutig utilitaristisch motivierte Weisung nicht die Gründungsurkunde des „Einwanderungslandes Preußen“, denn dazu kam sie glatte 55 Jahre zu spät. Am Anfang der gezielten Zuwanderungspolitik der Herrscher Brandenburg-Preußens stand vielmehr das Potsdamer Toleranzedikt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm vom 29. Oktober 1685, welches es den in ihrer französischen Heimat verfolgten Hugenotten ermöglichte, sich in Preußen niederzulassen.

Und auch Friedrich Wilhelms Sohn Friedrich III., der sich 1701 zum „König in Preußen“ gekrönt hatte und seitdem als Friedrich I. firmierte, setzte auf Menschen von außerhalb, als es darum ging, das Land nach der Großen Pest wiederzubesiedeln. So holte er bereits 1709 Schweizer Kolonisten nach Ostpreußen. Dieses sogenannte „Retablissement“ der Provinz wurde vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. fortgeführt. Außerdem kamen zwischen 1718 und 1725 noch zahlreiche meliorationserfahrene Holländer, von denen sich der Monarch die Entwässerung der Havelbrüche versprach; dann folgten 1732 die rund 20.000 Salzburger Protestanten, welche gemäß dem „Preußischen Einladungspatent“ einwanderten.

Und Friedrich der Große verfuhr ebenso: Unter seiner Herrschaft wurden Immigranten angeworben, um die Entsumpfung des Oder- und War-thebruchs voranzutreiben, wobei diese Projekte tatsächlich erfolgreich beendet werden konnten. Dazu kamen weitere Kolonisten, welche sich in dem 1772 dazugewonnenen Westpreußen und dem eroberten Schlesien ansiedelten. Besonders das Land und die Städte zwischen Weichsel und Netze wiesen eine eklatante wirtschaftliche und infrastrukturelle Rückständigkeit auf, die Bevölkerungszahl war unter dem Niveau des Spätmittelalters. Insgesamt wanderten so alleine in den 46 Regierungsjahren von Friedrich II. rund 240.000 Menschen ein.

Für alle galt jedoch der im 18. und selbst noch im 19. Jahrhundert gängige Grundsatz aller Einwanderungsströme in fremde, neu zu besiedelnde Gebiete: direkte wirtschaftliche Hilfen gab es nirgends. Der Neubeginn orientierte sich nicht selten an dem auf die Generationenfolge gemünzten Sprichwort „Dem ersten der Tod, dem zweiten die Not, dem dritten das Brot“. Staatliche Anreize gab es dagegen schon. Die anfängliche Befreiung von Steuern (wie unter den Habsburgern im Banat oder der Batschka) oder der Wehrpflicht (wie in Bessarabien vom Zaren verfügt) ließ die Nöte und Strapazen des Neuanfangs leichter ertragen. Religiösen Minderheiten wie Mennoniten, Pfingstlern oder den nach 1820 im südlichen Ostpreußen niedergelassenen altorthodoxen Philipponen genügte allein der Umstand, nicht verfolgt oder unterdrückt zu werden.

Allerdings stand für alle Monarchen dieser Zeit, natürlich auch für die Preußenkönige unverrückbar fest, daß die Aufnahme der Fremden strengen Spielregeln zu folgen habe. Beredter Ausdruck dessen war die argwöhnische Frage von Friedrich Wilhelm I. an den Kommissar, der die Einreise der Salzburger Exulanten organisierte: „Sind liederliche Leute dabei? Solche, die sich besaufen oder der Völlerei ergeben?“ Derartige Existenzen aufzunehmen, von denen nur Schaden für das Gemeinwohl drohte, wäre im zweckrationalen Preußen natürlich niemandem in den Sinn gekommen.

Aber genau das bleibt unerwähnt, wenn Politiker heute von der „vorbildlichen preußischen Einwanderungspolitik“ schwärmen, wie dies beispielsweise der kurz vor seinem Rücktritt stehende Bundespräsident Christian Wulff am 24. Januar 2012 aus Anlaß des 300. Geburtstages von Friedrich dem Großen getan hat: „Tausende durften sich in Preußen niederlassen: ob in Salzburg oder Sachsen geboren, ob Hugenotten, Katholiken oder Muslime.“

Die angeblich so offenherzige Aufnahme der letztgenannten Gruppe begeistert die Migrationslobbyisten dabei natürlich ganz besonders. Schließlich läßt sich damit die These stützen, daß der Islam schon seit längerem zu Deutschland gehöre. Und tatsächlich hatte Friedrich II. am 22. Juni 1740 verfügt: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden [...], den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden“ – wobei das explizit auch für den Islam zu gelten schien, denn in einer weiteren Feststellung des Herrschers vom 17. Juni des gleichen Jahres heißt es: „Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leüte, so sie profesieren [ausüben], erliche Leüte seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren [besiedeln], so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.“ Allerdings schwindet die Beweiskraft dieser vielzitierten Aussagen erheblich, wenn man sie quellenkritisch betrachtet und in den entsprechenden historischen Kontext stellt.

Die preußische Staatsräson verlangte die Assimilierung

So war der vermeintliche Aufruf zur allumfassenden religiösen Toleranz weiter nichts als die Reaktion auf eine Eingabe des geistlichen Departements, daß die neu eingerichteten Schulen für römisch-katholische Soldatenkinder, „zu allerhand Inconvenientien“ führen, wozu insbesondere gehöre, „dass man römisch-katholische Proselyten wider E. K. M. nunmehr in Gott ruhenden Herrn Vaters Maj. klare Verordnung vom 16. Novembris 1732 gemachet hat“. Deshalb wurde Friedrich II. gefragt, „ob nun bei so bewandten Umständen die römisch-katholischen Schulen bleiben sollen“. Hier ging es also ausschließlich um die Frage der angemessenen Behandlung von Katholiken. Deshalb ist es vollkommen verfehlt, den königlichen Ruf nach mehr Toleranz unter Christen in ein Bekenntnis zu einem religiös „bunten“ Preußen mit multikulturellem Zuschnitt umzuinterpretieren.

Das gilt analog für das „Versprechen“ Friedrichs, bei Bedarf Moscheen für muslimische Einwanderer zu errichten. In diesem Fall ist zu beachten, daß die Notiz selbigen Inhalts am Rande eines Berichtes des preußischen General-Direktoriums steht, in dem es um das Anliegen des italienischstämmigen Kaufmanns katholischen Glaubens Antonio Ruby geht, der in Frankfurt (Oder) ein Geschäft geerbt und nachfolgend darum ersucht hatte, das Bürgerrecht und die Mitgliedschaft in der Kaufmannsgilde zu erhalten. Beides konnte er nämlich nicht so ohne weiteres zugesprochen bekommen, weil es einen Erlaß von Friedrichs Vater gab, der besagte, daß Katholiken nur aufgrund einer besonderen Bewilligung des Königs das Bürgerrecht erhalten dürften.

Dieses Verfahren fand der neue Herrscher, welcher gerade erst den Thron bestiegen und daher sehr viel um die Ohren hatte, ganz offenbar lästig, weswegen er dem zögerlichen General-Direktorium eine Lektion erteilte, die da lautete: Selbst wenn Türken und Heiden kämen – die Betonung liegt dabei zweifelsfrei auf dem Konjunktiv –, würde er die aufnehmen, daher sei die Rückfrage wegen eines einzelnen Katholiken absolut überflüssig. Es ging also auch hier nicht um den Islam oder irgendwelche Zugeständnisse an dessen Anhänger, sondern um Beamtenschelte, in der die „Türken und Heiden“ als rhetorisches Negativbeispiel dienten, mit dem der König demonstrieren wollte, für wie unzeitgemäß und schematisch er die Anfrage in der Causa Ruby hielt.

Deshalb ließ Friedrich der Große selbst dann keine „Mosqueen“ bauen, als während des Siebenjährigen Krieges tatsächlich einige hundert Muslime aus dem Heer der russischen Zarin auf die preußische Seite wechselten. Aber wozu auch, wenn sich die Deserteure mit beeindruckender Geschwindigkeit assimilierten, weil die friderizianische Staatsräson genau das von jedem Zuwanderer verlangte?!

Foto: Peter Carl Geißler, „Die Einwanderung der Salzburger Protestanten (Ankunft in Berlin am 20. April 1732 am Halleschen Tor)“, Stahlstich 1840: „Dem ersten der Tod, dem zweiten die Not, dem dritten das Brot“

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