© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Betriebssoziologie des Genozids: Normalität organisierter Massenverbrechen
Morden aus innerer Identifikation
(ob)

Im Gegensatz zur rassistischen These von Daniel J. Goldhagen, der Deutschen genetische Dispositionen zur Judenfeindschaft unterstellt, sind seriöse Zeithistoriker seit langem bemüht, Massenverbrechen wie den NS-Genozid an den europäischen Juden, stalinistische „Säuberungen“ oder „Genozide im Rahmen der Kolonisierung“ der „Normalität der modernen Gesellschaft“ zuzuordnen. Jenseits von Mutmaßungen der auf ideologische oder ökonomische Antriebe fixierten Täterforschung dürfte daher, so glaubt der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl, die Organisationssoziologie neue Einsichten vermitteln. Sie stimmten allerdings nicht mehr überein mit den an Max Weber angelehnten Vorstellungen des „industriellen Verwaltungsmassenmordes“, die nur auf Vernichtungslager wie Auschwitz zuträfen, nicht auf „chaotische Ghettoliquidierungen“ oder „improvisierte Massenerschießungen“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/2014). Denn entscheidender als bürokratische Funktionalität sei gewesen, was bis heute „Wunschtraum“ jedes Unternehmenschefs sei: die Identifikation der Mitglieder mit dem Organisationszweck, so daß sie sich mit ganz unterschiedlichen Motiven den Erwartungen des Kollektivs unterwerfen. Jede organisierte Gewaltanwendung weise darum „Merkmale ganz normaler Organisationen“ auf.

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