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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/15 / 13. Februar 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Es fällt doch auf, mit wieviel Wohlwollen der Ende Januar ins Amt gewählte linke griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras bei dem Rest der Europäer rechnen darf, die er notorisch vor den Kopf stößt, und mit wieviel Übelwollen Ungarns seit 2010 amtierender rechter Regierungschef Viktor Orbán immer noch zu kämpfen hat, der sich stets um Höflichkeit bemühte.

Noch zum Tod Richard von Weizsäckers: Als Regierender Bürgermeister von Berlin hatte er es im Sommer 1981 mit massiven Ausschreitungen linker Gewalttäter in der Stadt zu tun. Daraufhin erklärte Weizsäcker in einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus, hier drohe der Verfall der ganzen staatlichen Ordnung zur „Ochlokratie“, also der Pöbelherrschaft. Wie im antiken Athen müsse der demokratische Staat untergehen, wenn dessen Gesetze nicht geachtet, dessen Gewaltmonopol nicht anerkannt werde. Daraufhin replizierte Hans-Jochen Vogel als Vorsitzender der SPD-Fraktion, wer sich wie Weizsäcker mit seiner Argumentation auf Platon berufe, wecke den Verdacht, kein Demokrat zu sein, man sollte sich auf den Staatsmann Solon besinnen, der die Gleichheit aller Bürger in den Vordergrund gerückt habe. Der Bezug auf Solons „Isonomie“ war zwar in der Sache abwegig, aber der ganze Vorgang bleibt doch aufschlußreich, insofern eine derartige Diskussion zwischen Politikern heute aufgrund des fehlenden Bildungshintergrunds gar nicht mehr vorstellbar ist.

Die konservative Leitregel: „Nie Schande zu machen, dem Hause der Väter“ (Homer, Ilias).

Über die Feststellung von SPD-Chef Sigmar Gabriel in einem Stern-Interview, es sei legitim, sich „rechts“ zu positionieren und sogar „deutschnational“ zu sein, sollte im konservativen Lager keine allzu große Begeisterung ausbrechen. Der Weg ist noch weit bis zu den Einsichten des langjährigen sozialdemokratischen Senatspräsidenten und Bürgermeisters von Bremen, Wilhelm Kaisen, der in der Nachkriegszeit nicht nur Trinksprüche „Auf das alte Preußen!“ ausbrachte, sondern auch meinte, Schwarz-Weiß-Rot mache sich zur See einfach besser als Schwarz-Rot-Gold.

Die meisten dürften die Aufforderung des israelischen Regierungs-chefs Benjamin Netanjahu an die französischen Juden, wegen der Pariser Anschläge das Land zu verlassen und nach Israel auszuwandern, als deplaziert empfunden haben. Aber dahinter steht offenbar nicht nur ein bestimmtes politisches Kalkül, sondern auch ein Wissen um die wachsende Bedeutung der aus Frankreich stammenden Bürger Israels: schon im letzten Jahr hatte sich deren Zahl von 3.500 auf 7.000 verdoppelt, in diesem Jahr rechnet man mit 15.000 Einwanderern. Wenn sonst nichts, dann sieht man daran, in welchem Tempo sich als selbstverständlich betrachtete Strukturen der Bevölkerung auflösen und verändern können.

Bildungsbericht in loser Folge LXXI: „Kinder fordern: Eltern, erzieht uns!“ (Titel der Illustrierten Stern, Ausgabe vom 29. Januar 2015)

Wachsender Antisemitismus ist auch in Großbritannien ein Problem. Die Zahl der Attacken, die in den vergangenen Jahren relativ konstant blieb, hat sich 2014 mit fast 1.200 Fällen verdoppelt. In der jüdischen Gemeinschaft des Landes gibt es eine wachsende Unruhe, und fast die Hälfte der befragten Mitglieder gab an, über eine Emigration nachzudenken. Während in Frankreich die Ursache für den ausbrechenden Judenhaß politisch-korrekt beschwiegen wird, läßt man in Großbritannien wenigstens durchblicken, daß der Konflikt in Gaza und die Auseinandersetzung um die Pariser Anschläge – mithin die Haltung des islamischen Bevölkerungsteils – eine wesentliche Ursache für diesen neuen, in Wirklichkeit uralten Antisemitismus sei.

Die Abtreibung jeder Kenntnis der antiken Geschichte, die auch mit dem Verfall der Alten Sprachen zu tun hat, ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern hat politische Implikationen. Man sieht gern verhindert, daß über die „Große Parallele“ (Schmitt dixit) nachgedacht wird. Wenigstens ist es noch nicht so weit wie im Rußland Nikolaus I., der befahl, in den klassischen Texten die Hinweise auf das Wort „Republik“ zu tilgen, um seine Untertanen von falschen Schlußfolgerungen abzuhalten.

„Viel ernster zu nehmen ist die heimatlose Rechte. Sie ist nicht heimatlos, weil sie sich selbst in dieser Rolle gefällt, sondern weil es in der Tat in der Bundesrepublik, die sonst so tolerant ist, nach rechts hin keine Toleranz gibt und infolgedessen auch keine echten Rechtsparteien. Gäbe es eine große Partei der Rechten, (…) dann wären sie an einer Stelle gesammelt, die sie mit Verantwortung vertreten müßte, und zwar im Parlament und gegebenenfalls auch in der Regierung.“ (Richard Tüngel, Architekt, Übersetzer, Journalist, Mitbegründer der Zeit, 1959)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 27. Februar in der JF-Ausgabe 10/15.