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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/15 / 13. Februar 2015

Sie fand nicht „vor den Augen der Öffentlichkeit“ statt
Ein Zwischenruf des Politikwissenschaftlers Konrad Löw zu den Äußerungen der Dresdner Bürgermeisterin Helma Orosz über die Judendeportationen
Konrad Löw

Am 13. und 14. Februar 2015 jähren sich zum 70. Mal die mörderischen Fliegerangriffe auf Dresden. Am 69. Jahrestag ergriff die Oberbürgermeisterin der Stadt, Helma Orosz, das Wort und führte aus: „… es ist eine unzweifelhafte Tatsache, daß Dresden keine unschuldige Stadt war. (...) Juden und deren nichtjüdische Angehörige (...) wurden in Dresden vor den Augen der Öffentlichkeit schikaniert und abtransportiert.“ Haben tatsächlich „die Dresdner“ die Verbrechen innerlich bejaht. Falls ja, wie viele waren das? Eine kleine Minderheit oder die große Mehrheit? Immerhin gibt es einen Chronisten dieser Zeit, der als Dresdner und gleichzeitig NS-Opfer Antworten auf diese Fragen liefern könnte: Victor Klemperer. Der Titel seines Werkes „Tagebücher 1933–1945“, acht Bände.

Dieser jüdische Autor verfolgte damals das Leben in der Stadt als Zwangsarbeiter in verschiedenen Fabriken und als Schneeschipper in den öffentlichen Straßen. Nicht irgendwann am Anfang der Hitlerdiktatur oder kurz vor ihrem Ende, sondern als sich Hitler im Zenit der Macht befand, im Oktober 1941, lautete sein Fazit: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“ Und er wird noch deutlicher. Am 6. März 1942, nachdem er wochenlang als „Besternter“ in den Straßen Dresdens Schnee geschaufelt hatte: „Aber ich glaube, auf einen solchen [Hitler-] Gläubigen kommen doch wohl schon fünfzig Ungläubige. Genauso ist wohl das Verhältnis derer, die uns mit Vergnügen arbeiten sehen oder beschimpfen, zu den Sympathiekundgebern ...“ Dies sind nur einige Kostproben. Mit keinem Wort bestätigt Klemperer Orosz’ Anschuldigungen.

Auch vor den „Augen der Öffentlichkeit“ haben die Deportationstransporte der jüdischen Dresdner nicht stattgefunden. Es ist geradezu amtlich dokumentiert, daß der Abtransport vom für die Allgemeinheit nicht zugänglichen Güterbahnhof Dresden-Neustadt erfolgt ist, eben nicht vom Hauptbahnhof, dem zentralen Wettiner Bahnhof oder dem Personenbahnhof Dresdner-Neustadt. Tatsächlich befindet sich heute am Haupteingang zu diesem Personenbahnhof Dresden-Neustadt eine große Tafel mit einem Text, der durch die Hervorhebung „hier“ eine Verwechselung der mehrere hundert Meter entfernten Bahnhöfe befördert: „Im Nationalsozialismus war der Güterbahnhof Dresden-Neustadt Ausgangspunkt oder Zwischenstation für viele Deportationen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Im Oktober 1938 begann hier die Abschiebung von 724 Dresdener Juden nach Polen. Mit Zügen der Deutschen Reichsbahn erfolgte zwischen 1942 und 1945 ein großer Teil der Transporte in die Ghettos Riga und Theresienstadt, in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau sowie in andere Konzentrationslager.“

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“ (München 2010)