© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Die Tragödie wird fortgesetzt
Auch nach den Minsk-II-Vereinbarungen herrscht im Osten der Ukraine noch lange kein Frieden
Billy Six

Geschossen wurde bis zur letzten Minute – und darüber hinaus: Auch nach Inkrafttreten des bereits wieder mehrfach gebrochenen Waffenstillstands glaubt niemand in der Ukraine an die Minsk-II-Vereinbarungen. Dabei waren die Kampfhandlungen von September 2014 bis Januar 2015 schon einmal deutlich zurückgegangen. Höhepunkt zum orthodoxen Weihnachtsfest: der friedliche Austausch ukrainischer Soldaten am Flughafen von Donezk – unter Begleitung ihrer Feinde, der Donbass-Aufständischen. Anders als auf den islamischen Schlachtfeldern ist Krieg hier keine populäre Sache, eher „bedauernswerte Notwendigkeit“, wie einige Kämpfer dort meinten.

Das reiche Kohlerevier südlich des Donez-Flusses hat sich politisch und finanziell von Kiew losgesagt, seine enge Bindung nach Rußland behauptet – doch der einst starken Industrie fehlt nun die Perspektive. Dem Kreml ist bewußt, daß es früher oder später zu einer internationalen Anerkennung der Krim-Annexion kommen wird. Im Falle seiner Ostgebiete läßt Kiew jedoch nicht mit sich verhandeln – und verbaut sich so den gewünschten Beitritt zur Nato. Zu einer Aufnahme wird es nicht kommen, solange der innere Konflikt nicht gelöst ist. Dafür sind Moskau die Volksrepubliken von Donezk und Lugansk nur recht.

Die ukrainische Regierung brauchte das schnelle Schweigen der Waffen am dringendsten: Mit der katastrophalen Niederlage in der strategisch unsinnigen Abwehrschlacht am Donezker Flughafen liegt die Moral der Truppe einmal mehr am Boden. An der schlechten Ausstattung und mangelnden Organisation des Militärs scheint sich wenig geändert zu haben. Im Windschatten der Front konkurriert die politische Führung in Kiew um Autorität mit autonomen Nationalistenverbänden. Die „Dnipro“-Bataillone hören auf Oligarch Igor Kolomojski, nicht auf Präsident Poroschenko. Der „Rechte Sektor“ ist eine echte Volksmiliz, mit Freiwilligen aus allen Teilen des Landes.

Die Ukraine, immerhin an zwölfter Stelle unter den größten Waffenexporteuren in der Welt, besitzt noch prall gefüllte Munitionslager aus der Sowjetzeit. Allemal könnte die Armee die abtrünnigen Gebiete zwar verwüsten – doch dann würde Rußland direkt und offen intervenieren, so wie 2008 in Georgien. Kiew hätte keine Chance.

Der Wunsch nach amerikanischen Waffenlieferungen richtet sich auf Präzisionstechnik im Defensivkampf – und das nicht nur zur Stabilisierung der drückenden Donbass-Front. Das Gewaltmonopol des Staates im gesamten Südosten des Landes steht auf tönernen Füßen. In Charkow und vor allem in Odessa kam es im vergangnen Jahr zu blutigen Straßenschlachten zwischen ukrainischen Nationalisten und Neurußland-Anhängern. Die Idee einer Teilung des Landes, vom amerikanischen Politologen Samuel Huntington bereits in den neunziger Jahren skizziert, würde Kiew den Zugang zum Schwarzen Meer rauben, dazu den Handelshafen Odessa sowie die verbliebenen Industriestandorte Dnipropetrowsk und Charkow. Auch das Stammland der Kosaken wäre verloren – und damit ein zentraler Nationalmythos. Zurück bliebe ein rein auf Mitteleuropa fixiertes Agrar- und Dienstleistungsland. Doch ein in der Westukraine lang gehegter Traum würde wahr: Das Ukrainische wäre als alleinige Sprache etabliert, die Gefahr einer russischen Vereinnahmung, aktuell in Gestalt von Putins Eurasischer Union, gebannt.

Ein Preis, der zu hoch ist. Auch die sanftere Lösung, ein Verzicht auf die Westintegration, kommt für die neue Regierung nicht in Frage. Die Maidan-Revolution hatte genau das initiiert. Eine Mehrheit der jungen Menschen, darunter auch Flüchtlinge von der Krim und aus dem Donbass, glaubt an Individualismus und Leistungsgesellschaft sowie persönliche Vorteile durch ein Zusammenwachsen mit dem kapitalstarken westlichen, nordatlantischen Raum. In Galizien leben viele Familien bereits heute vom Handel mit der und Arbeitsmigration in die EU. Im Falle einer Niederlage des Maidan hätte der Separatismus wohl hier stattgefunden, freilich mit vertauschten Fürsprechern auf dem internationalen Parkett.

Aussichtslose Auseinandersetzungen in die Zukunft zu vertagen, entspricht dem europäischen Zeitgeist. Minsk II wird dem Konflikt vorerst Schärfe und Intensität nehmen – und ihn gleichzeitig in die Länge ziehen. Eingefrorene Konfrontationen auf dem Territorium der früheren Sowjetunion sind keine Seltenheit: Transnistrien ist eine prorussische Splitter-Republik in Moldawien. Abchasien und Südossetien haben sich ohne internationale Anerkennung von Georgien losgesagt. Und mit Bergkarabach existiert auf dem Gebiet Aserbaidschans ein proarmenischer Separat-Staat, der ebenfalls Moskau zuneigt. Sie alle haben sich jedoch bereits 1992 konstituiert, unmittelbar nachdem die UdSSR Geschichte geworden war. Das ist der Unterschied zur Lage in der Ukraine: Bis zum Euro-Maidan gab es weder auf der Krim noch im Donbass aktive Abspaltungsbestrebungen.

Die Nachfahren der alten Ruthenen haben sich aufgrund politischer Dispute überworfen. Der schrittweise Abschied Kiews aus der russischen Welt, beginnend 1992 mit der Unabhängigkeit und der Gründung eines eigenen orthodoxen Kirchen-Patriarchats, schmerzt das rußländische Volk bis ins Mark. Selbst die faktische Niederlage der Amerikaner und Briten, die trotz vertraglicher Zusicherung im Budapester Memorandum die Integrität des jungen ukrainischen Staates nicht erfolgreich geschützt haben, kann da nicht entschädigend wirken.

Rußland dürften schwere Zeiten bevorstehen. Sollte der einigende Stolz auf das „mächtige und furchterregende Imperium“ wieder nachlassen, könnten diverse ethnische Gruppen an der Peripherie ebenfalls ihre Begeisterung für eine Abspaltung mittels Referendum entdecken.

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