© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Die gewöhnliche Seele hat sich durchgesetzt
Bunte Hetzmitte: In der modernen Massengesellschaft werden Unterschiede als Provokation empfunden
Thorsten Hinz

Die Xgida-Demonstranten und die AfD werden von der Politik, den Medien, der Zivilgesellschaft einschließlich der Antifa-Szene als Haßobjekte bekämpft. Warum eigentlich? Die Demonstranten pochen lediglich auf ihr Heimatrecht, und die AfD will ein wenig Vernunft in die Politik, insbesondere die Währungspolitik, einbringen. Wer das verhindert, nimmt die Selbstzerstörung nicht nur in Kauf, er betreibt sie aktiv.

Ein Beispiel dafür war die Kampagne um einen getöteten eritreischen Asylbewerber in Dresden. Obwohl alle Erfahrungen nahelegten, daß der Tod auf einen Streit unter Heimbewohnern zurückging, halluzinierten Politiker, Journalisten und Demonstranten umgehend einen rassistisch motivierten Mord herbei. Die politische Semantik reicht zur Erklärung nicht aus, man muß schon auf medizinische Kategorien zurückgreifen.

Die genußvolle Selbstbezichtigung und -degradierung offenbart eine masochistische Tendenz. Die anschließende Forderung, jetzt erst recht die Zuwanderung zu forcieren und so die vermeintlichen deutschen Rassisten – von denen man sich ja absentiert hat, indem man sie anklagt – zu bestrafen, zeugt von Sadismus. Die sadomasochistische Disposition hängt eng zusammen mit dem verinnerlichten NS-Schuldkomplex. In der Folge erscheint die nationale Selbstanklage und -absentierung für junge Menschen als der natürlichste Weg, ihren Überschuß an Idealismus auszuleben.

Die Wiedervereinigung hat den doktrinären Antifaschismus der DDR und den bundesdeutschen Drang zur Selbstauflösung in einem postnationalen Gebilde zusammengeführt. Vorbereitet wurde die Synthese durch den Siegeszug des Geistes von „1968“. Auch das Toben, Brüllen, Stigmatisieren und das Drohen mit körperlicher Gewalt, die einsetzen, wenn politische Debatten endlich zum Kern vordringen, geht auf die Studentenbewegung zurück. Ihr Anspruch auf Weltveränderung war freilich mit dem Ehrgeiz zur Welterkenntnis verbunden. Zwar hatte nur eine Minderheit die „Dialektik der Aufklärung“, die „Minima Moralia“ oder den „Eindimensionalen Menschen“ tatsächlich gelesen, doch es gehörte zum guten Ton, daraus ein paar Vokabeln parat zu haben.

Das Vokabular der aktuellen Zivilgesellschaft erschöpft sich in Begriffen wie „vielfältig“, „weltoffen“ und „bunt“. Sie ergeben eine politische Theorie auf Primatenniveau. „Deutschland ist bunt wie nie. Aber bunt sind auch die Zufallsgemälde des Schimpansen Congo“, spottete der Publizist Dimitrios Kisoudis.

Zum Schuldkomplex ist also ein durchgreifender geistiger Schwund getreten. Dazu hat ironischerweise die von den Achtundsechzigern angestoßene Akademisierung beigetragen. Junge Leute, die das Zeug zu fähigen Facharbeitern hätten, drängen seither in die geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten, wo das Niveau heruntergeschraubt wird, um die Absolventenquote nach oben zu stemmen.

Negativauslese und Abwärtsspirale

Auf diese Weise, schreibt der Bevölkerungswissenschaftler Volkmar Weiss im Buch „Die Intelligenz und ihre Feinde“, werden „Zehntausende Soziologen, Psychologen, Historiker usw. zu ‘Intellektuellen’ ausgebildet, während in den naturwissenschaftlichen, technischen und ingenieurswissenschaftlichen Fächern die Zahl der Studenten sinkt“. Ausgestattet mit Halbwissen, wertlosen Abschlüssen und Professionen, bilden sie ein Intelligenzproletariat und müssen, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, „sich immer neue gesellschaftliche Aufgaben ausdenken, mit denen sie den produktiven Sektor knebeln und Mittel entziehen“. Ihre bevorzugten Berufsfelder sind die Politik sowie der öffentliche und halböffentliche Dienst, wo Heerscharen von Konflikt- und Friedensforschern, Gender-, Gleichstellungs-, Extremismus- und Vergangenheitsexperten nach staatlichen Subventionen haschen. Andere finden prekäre Anstellungen in der Medienbranche.

Was im Einzelfall eine Negativauslese darstellt, potenziert sich, weil sie Multiplikatoren-Posten einnehmen, für die Gesellschaft zur Abwärtsspirale. Andere harren in einer Endlos-Warteschleife aus, wo sie ein explosives Potential aus Enttäuschung, Frustration und Rachegefühlen generieren, das sich in Gewalt entlädt.

Es wäre zu simpel, die Entwicklung allein auf den Schuldkomplex und den 68er-Dezisionismus zurückzuführen. Sie ist auch eine Begleiterscheinung der modernen Massengesellschaft, die historisch mit dem Zerfall der Ständegesellschaft im Zuge der kapitalistischen Industrialisierung begann. Gleichzeitig zertrümmerte die Aufklärung die göttliche Autorität und verwarf den Vorrang des Erbadels. Dieser Egalisierungsprozeß ist nicht unbedingt negativ zu bewerten: Zum einen hat der Kapitalismus bewiesen, daß er in der Lage ist, einen Massenwohlstand zu schaffen. Auch haben die Verabschiedung anachronistischer Autoritäten und die neue Durchlässigkeit in der Gesellschaft zur zeitweiligen Hebung des geistig-kulturellen Gesamtniveaus geführt. Der Drang nach Bildung etwa war in der Arbeiterbewegung eine wichtige Triebkraft.

Die gegenläufige Tendenz besteht in Degradierung der Menschen zu entwurzelten Proletariern, zu flexiblen Arbeitsnomaden, die der geistig-kulturellen Regression im Zeichen des Massengeschmacks erliegen und sich darin wohlfühlen. Ortega y Gasset hat diese Gefahr drastisch formuliert: „Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist jedoch, daß die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen.“

Aufgrund von Faktoren, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken: ökonomische Zwänge, die sedierende Wirkung des Konsums und des Umverteilungsstaates, das unterschiedliche Reproduktionsverhalten der intelligenten und der weniger Intelligenten usw., hat die „gewöhnliche Seele“ sich durchgesetzt. Sie sorgt dafür, daß es bei der Abschaffung des Erbadels nicht bleibt. Ihr folgt, wie Peter Sloterdijk im Essay „Die Verachtung der Massen“ darlegt, die „Liquidierung des Natur- oder Talentadels“. Nun wird schon die bloße Existenz von Unterschieden und Hierarchien als Beleidigung und Provokation empfunden. Natürliche und kulturelle Distinktionen – wie Geschlecht oder Bildung – werden als „Konstrukte“ interpretiert, die überholte Machtansprüche repräsentieren und durch demokratische – das heißt: egalitaristische – Konstrukte ersetzt werden müssen. Geduldet werden nur mehr Unterschiede, die substantiell nichts bedeuten und lediglich eine temporäre Interessantheit etwa im Rahmen der Spaßgesellschaft markieren. Tiefer grundierte Besonderheiten, die auf Qualitätsunterschiede oder gar auf eine Sezession verweisen, werden als illegitim bekämpft. Vor 15 Jahren bereits prägte Sloterdijk den Begriff der „bunten Mitte“, die sich – in Anlehnung an Elias Canettis „Hetzmeute“ – zur „Hetzmitte“ formiert. In der Formel „Bunt statt braun“ erlebt sie nun eine geschichtstheologische Aufladung.

Dadurch hält die „bunte Mitte“ einen Hebel in der Hand, der ihr die Definitionshoheit auch über Fragen der nationalen Identität, der Einwanderung, Multikulturalismus und andere politische Probleme verschafft. Mit dem Abschied von den europäischen Gesellschaften will der Massenmensch das schmerzhafte Bewußtsein beziehungsweise die Erinnerung an das eigene Ungenügen und seine Überforderung im Angesicht der europäischen Kultur- und Geistestraditionen auslöschen. Da nützt es gar nichts, ihn auf Unvereinbarkeiten und Niveauverluste durch eine uferlose „Migration“ aufmerksam zu machen, ihm sein Unwissen über die Geschichte und Kulturen nachzuweisen. Triumphierend wird er darauf bestehen, daß solches Wissen überflüssig, ja schädlich ist, weil es den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Gleichheit aller, versperrt!

Eine ökonomische Logik drängt auf Standardisierung

In den anderen europäischen Nationalstaaten, die keinen NS-Schuldkomplex haben, sieht es nicht besser aus als in Deutschland. Allerdings werden auch dort die nationalen Geschichtsbilder längst von der Sakralisierung des Holocaust transzendiert. Zudem haben sie ihre eigenen hybriden Komplexe, die vor allem aus der Kolonialzeit stammen. Großbritannien gab sich der Selbsttäuschung hin, die verflossene Größe des Weltreichs ließe sich symbolisch aufrechterhalten, wenn man den einstigen Kolonien nur das Tor ins Mutterland offenhielte. In Frankreich hat der illusorische Glaube an die republikanische Sendung ebenfalls zu gefährlichen Konsequenzen geführt. Die anderen europäischen Länder sind zu klein oder schwach, um einen eigenständigen politischen Willen geltend zu machen. Seit jeher neutralisiert, schwimmen sie im Fahrwasser der größeren Staaten. Eine Ausnahme bildet höchstens die basisdemokratisch verfaßte Schweiz.

Und schließlich stehen alle Länder und politischen Kräfte unter der Fuchtel einer ökonomischen Logik, die auf Angleichung und Standardisierung der Individuen, Staaten und Kulturen drängt. In der international agierenden Finanzindustrie hat sie einen besonders häßlichen Ausdruck gefunden. Man muß darauf setzen, daß die klügeren Kräfte auf der Linken begreifen, daß sie zur Zeit als Funktionsgrößen eines seelenlosen wie unsozialen Globalismus agieren, und ihr Handeln ändern.

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