© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Von der Pracht magischer Orte
Kinokultur: Zur Ausstellung „Filmtheater“ im Deutschen Filmmuseum
Claus-M. Wolfschlag

Mit einer auch für Nicht-Cineasten faszinierenden Fotoausstellung beglückt das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main derzeit seine Besucher. Zu sehen sind Aufnahmen verfallener US-amerikanischer Filmpaläste. Dabei wird das stete Zusammenspiel zwischen historisch-gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen, technischem Stand und kultureller Blüte verdeutlicht.

Bereits bei Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit 2001 erlagen die beiden Pariser Fotografen Yves Marchand und Romain Meffre, damals blutjunge 20 und 15 Jahre alt, der Faszination des Morbiden. 2005 reisten sie für ihre Fotoserie „Ruins of Detroit“ in die absterbende einstige Hochburg der amerikanischen Automobilindustrie. Dabei kam es auch zu ersten Aufnahmen verfallener Filmtheater. Ein Jahr später begannen sie mit der Folgeserie „Theaters“, in der sie sich ganz den einstigen US-Filmpalästen und deren Schicksal widmeten. Das war nicht immer unkompliziert. Wenn die ursprüngliche Kinobeleuchtung nicht mehr vorhanden war, verrückten beide sukzessive eine Halogenlampe, während sie mit einer Großformatkamera eine bis zu einer Stunde dauernde Langzeitaufnahme herstellten.

Die Ausstellung „Filmtheater“ vermittelt dazu ausführlich die historischen Hintergründe. Demnach entwickelte sich die Kinokultur als Massenphänomen von den USA ausgehend in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit rasender Geschwindigkeit. Allein zwischen 1914 und 1922 entstanden in den USA 4.000 Kinos, die den Massenandrang kaum bewältigen konnten. Mit der meist neobarocken Ausstattung der Kinosäle kam man den Menschen und ihren Sehnsüchten entgegen. Diese orientierten sich am Leben des Adels und Großbürgertums, an den alten Theatern und Opernhäusern, zu denen ein einfacher Arbeiter oder Angestellter kaum Zugang hatte. Kronleuchter, feine Holzverkleidungen, Stuckarbeiten, Samtbezüge und Marmorfußböden gehörten teils zum Inventar der viele hundert Besucher fassenden Kinosäle.

Die wachsenden Publikumszahlen waren wiederum ein Ergebnis der Industrialisierung und Automatisierung, welche Massen von US-Bürgern das Phänomen „Freizeit“ bescherte. Schon 1930 fanden sich wöchentlich 90 Millionen Besucher in den US-Kinos ein, bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 123 Millionen. Dieser Boom steigerte sich noch einmal kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, um dann mit dem Aufkommen des Fernsehens jäh in sich zusammenzufallen. Bereits 1957 besaßen 90 Prozent der US-Haushalte ein Fernsehgerät. Das Kinosterben setzte ein. Die großen Säle schlossen, nicht selten nach einer kurzen Zwischennutzung als Pornokino. In den Siebzigern und Achtzigern überlebten meist kleine Schachtelkinos, bis sich die Branche mit den Multiplex-Kinos ab den neunziger Jahren konsolidieren konnte.

Die im Filmmuseum gezeigten Fotografien beantworten folglich auch die Frage nach dem heutigen Schicksal der einstigen Monumental-Kinosäle. Manche der Ruinen werden abgerissen, andere stehen unter Denkmalschutz und sollen saniert werden. Ansonsten finden sich vielfältigste Nutzungen: Das Paramount Theater in Brooklyn dient heute als Basketball-Sporthalle, jenes in Long Branch hingegen als verkommene Lagerhalle für Paletten und Gerüststangen. Das kaum noch zu erahnende State Theater in West Orange fungiert als Busgarage, das orientalisch gestaltete Alhambra Theater in San Francisco als gepflegtes Fitneßstudio. Das bröckelnde Girard Avenue Theater in Philadelphia und das besser erhaltene Rivoli Theater in Berkeley dienen heute als Supermärkte.

Marchands und Meffres Aufnahmen beeindrucken ungemein. Der Zauber der Bilder entsteht nicht nur durch das Wechselspiel einstiger Pracht und heutigen Verfalls, sondern auch dadurch, daß Kinosäle von jeher magische Orte sind. Sie verzaubern uns, in dem die dort gezeigten Filmwerke uns zum Lachen, Weinen oder Mitfiebern bringen. Und so regen die gezeigten Fotografien auch zu Assoziationen an: Welche Filme mochten dort auf der Leinwand einst Hunderte von Besuchern in ihren Bann gezogen haben? Welches Paar mag sich auf jenen Sitzen das erste Mal geküßt haben? Und wie mag der Platzanweiser gelebt haben und gestorben sein, der einst in vielen Nächten seine Runden durch die heute verwaisten Reihen zog?

Die Ausstellung „Filmtheater“ ist bis zum 31. Mai im Deutschen Filmmuseum, Schaumainkai 41, Frankfurt am Main, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 069 / 96 12 202 20 http://deutsches-filminstitut.de

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