© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro
Der Grexit ist machbar
Dirk Meyer

Was auch immer Deutschland macht oder sagt, es wird sowieso zahlen.“ Dieser Satz des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis in einem Interview mit La Tribune ist anmaßend, aber richtig. Zur Erinnerung: Zwei Kredit-Hilfspakete im Umfang von 240 Milliarden Euro wurden 2010 und 2012 zu stark subventionierten Zinssätzen vergeben. In einem ersten Schuldenschnitt im März 2012 mit einer Ausfallquote von de facto 70 Prozent haben private Gläubiger Forderungen im Umfang von etwa 107 Milliarden Euro verloren. Der Verlust deutscher privater Kapitalanleger betrug sechs Milliarden Euro.

Über die Bad Bank der HRE sowie andere Banken im Staatseigentum entstand dem deutschen Steuerzahler ein in keinem Haushalt verbuchter Schaden von 14 Milliarden Euro. Der zweite Schuldenschnitt im November 2012 betraf die öffentlichen Hilfegeber. Eine Laufzeitverlängerung – der letzte Kredit läuft 2057 aus –, ein Zinsaufschub für die ersten zehn Jahre sowie eine Zinssenkung bewirkten einen verdeckten Ausfall von 40 Prozent. Auch dieser Verzicht tauchte in keinem Bundeshaushalt auf, wenngleich er für den deutschen Fiskus geschätzt immerhin zirka 26 Milliarden Euro betrug.

Derzeit liegen 322 Milliarden Euro griechische Staatsschulden im Feuer, davon 81 Prozent bei den öffentlichen Gläubigern des Rettungsfonds, den EU-Staaten, dem IWF sowie der EZB. Mit dem Argument, einem nackten Mann könne man nicht in die Taschen greifen, wird bereits ein sogenanntes Überbrückungsprogramm diskutiert. Doch das Bild ist unzutreffend! So hat die Hälfte aller Griechen ein Vermögen, das doppelt so groß ist wie entsprechende Vermögen hierzulande. Der Unterschied erklärt sich aus den Zerstörungen beider Weltkriege. Folgerichtig ist zwischen Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit zu unterscheiden. Der nackte Mann will seinen Rucksack nicht antasten.

Nach der Regierungserklärung von Alexis Tsipras stellt sich zudem die Frage: Soll die Troika diesem nackten Mann einen bereits stornierten FKK-Urlaub finanzieren? Wohlgemerkt, gegenüber dem griechischen Bürger ist dieser Vergleich eine Zumutung. Er weist aber klar auf die Interessen der Gesichtswahrung der europäischen Geber und des Durchwurstelns der Hilfenehmer hin, die ein Scheitern um jeden Preis zu verhindern suchen.

Ein wichtiger Punkt wurde bislang in der Diskussion um eine Fortführung der Hilfen unterschlagen. Gemäß Art. 136 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) können die „Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, ... einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu wahren“. Sowohl Finanzminister Schäuble wie auch die Ratingagentur S & P sehen keine akuten Ansteckungsgefahren für die Eurozone. Demnach dürften weitere Hilfen außerhalb der rechtlichen Grenzen liegen.

Dabei ist ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone entgegen offizieller Bekundungen juristisch ohne weiteres möglich. Zwar ist ein Ausscheiden aus der Europäischen Währungsunion im EU-Vertrag von Lissabon (EUV) nicht vorgesehen. Hingegen ermöglicht Art. 50 EUV einen Austritt aus der EU. Dies würde einen Austritt für eine juristische Sekunde und einen sofortigen Wiedereintritt als quasi-vertragskonforme Lösung ermöglichen. Ähnlich dem Fall Großbritanniens oder Dänemarks könnte der Sonderstatus als „Mitgliedstaat mit Ausnahmeregelung“ (Art. 139 AEUV) die Einführung der Neä Drachmä (ND) erlauben.

Der griechische Staat kann seine Zahlungen nicht mehr in Euro leisten. Damit die Wirtschaft nicht zusammenbricht, könnte er mit selbstgedruckter Neuer Drachme auf Schuldscheinbasis zahlen und diese als nationale Parallelwährung zirkulieren lassen.

Nicht unerwähnt bleiben sollte das mögliche Problem des Zeitfaktors bei dieser Lösung. Formal wäre ein Austrittsabkommen auszuhandeln, und bei Wiedereintritt fände das Verfahren nach Art. 49 EUV Anwendung. Neben einem einstimmigen Beschluß der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat müßte das Europäische Parlament mehrheitlich zustimmen. Schließlich müßte das Wiederbeitritts­abkommen von allen EU-Staaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert werden, in Deutschland also der Bundestag zustimmen. Insofern birgt dieses Verfahren gewisse Risiken. Allerdings könnte ein kooperatives Verhalten der EU vorausgesetzt werden, das eine sofortige Einführung einer nationalen Währung gestatten würde.

Eine juristisch sicherere, bereits erprobte Alternative erlaubt eine nationale gesetzliche Regelung in den Fällen, in denen die EU ursprünglich eine ausschließliche Zuständigkeit besitzt (Art. 2 Abs. 1 AEUV). Dies gilt auch für die „Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist“ (Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV). Voraussetzung für eine nationale Politik wäre ein einstimmiger Beschluß im Europäischen Rat. Diese Regelung wurde beispielsweise für die Fischereipolitik angewandt, die ebenfalls zur ausschließlichen Politik der EU zählt. Auch hier wurde der territoriale Geltungsbereich mit der Herausnahme Grönlands als Teil des dänischen Staatsgebietes eingeschränkt. Damit wäre für Griechenland der Weg zur Einführung einer eigenen Währung frei.

Schließlich ließe der Eintritt Griechenlands mit gefälschten Zahlen in Verbindung mit einer fortgesetzten Nichterfüllung der Stabilitätskriterien einen Ausschluß aus der Eurozone zu. Dazu wäre die Annullierung des Ratsbeschlusses notwendig, der im Jahr 2000 zur Aufnahme Griechenlands in die Eurozone geführt hat. Zwar kann die Nichtigkeit wegen Fristablaufs nicht mehr geltend gemacht werden, doch könnten eine fortwährende Manipulation der Schuldenstatistik sowie ein weiterhin offensichtliches Abweichen vom rechtmäßigen Stabilitätsverhalten angeführt werden.

Darüber hinaus besteht die Rechtsmeinung, daß ein Euro-Mitglied weiterhin eine nationale Handlungsbefugnis ohne die Ermächtigung der EU zur Einführung einer eigenständigen Wäh-rung besitzt. Durch das im Lissabon-Vertrag gewährte Austrittsrecht eines jeden Staates aus der EU würden alle nationalen Hoheitsbefugnisse prinzipiell fortbestehen, obgleich sie im einzelnen de facto auf die EU übertragen worden sind. Ein entsprechend einseitig erklärter Austritt aus dem Euro wäre danach zwar ein europarechtlicher Verstoß, jedoch wäre die Gemeinschaft bei Achtung der nationalen Souveränitätsrechte dazu verpflichtet, alle entgegensprechenden Regelungen zur Einführung einer nationalen Währung für dieses Land baldmöglichst aufzuheben. Zugleich unterstützt das demokratische Prinzip und das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 2 und 6 EUV) die Forderung nach Akzeptanz der Austrittsentscheidung eines Mitgliedstaates aus der Eurozone seitens der verbleibenden Mitglieder.

Neben dem juristisch-regelgerechten Weg gibt es jedoch noch die Macht des Faktischen. Hierbei ist nur noch offen, wer den Euro-Stecker für Griechenland zieht. Bei einer Staatsverschuldung von etwa 180 Prozent des BIP und einer Rendite von 18 Prozent für dreijährige Staatsanleihen ist der Kapitalmarktzugang versperrt. Sollten sich zudem die Finanzminister – wann auch immer – entschließen, die Hilfszahlungen einzustellen, wäre eine Staatsinsolvenz unvermeidlich. Die Folge: Der griechische Staat kann auch seine Zahlungen für die Löhne seiner Staatsbediensteten, für Güterkäufe sowie Sozialleistungen nicht mehr in Euro leisten.

Um die Wirtschaft nicht zusammenbrechen zu lassen, könnte er mit selbstgedruckten ND auf Schuldscheinbasis zahlen und diese als nationale Parallelwährung zirkulieren lassen. Ähnlich führte das Deutsche Reich 1923 die Rentenmark als staatliche Schuldverschreibungen ein. Per Dekret würden alle inländischen Forderungen und Verbindlichkeiten in ND umgewandelt. Dies käme einem De-facto-Austritt gleich. Zukünftig würden Importe weiterhin in Euro fakturiert. Der Wechselkurs würde mit der Höhe des Haushaltsdefizites schwanken und eine Abwertung mittelfristig die heimischen Exporte befördern.

Dem Fortgang der Eurozone stünde ein vertraglich einvernehmlich geregelter Austritt Griechenlands besser zu Gesicht. Da eine abwertende ND die Rückzahlung der Euro-Schulden unmöglich macht, wäre ein dritter Schuldenschnitt sowieso unumgänglich.

Probleme entstehen allerdings in kurzer Frist. Da die von griechischen Banken gehaltenen Staatsanleihen nicht bedient werden, außerdem die Bürger ihre Euro-Guthaben vor Konfiskation oder Zwangsumwandlung in ND retten wollen, käme es zu einem Ansturm auf die Geldinstitute. Bereits im Januar hoben die Griechen elf Milliarden Euro ihrer insgesamt 160 Milliarden Euro schweren Einlagen in bar ab. Die für Griechenland bestehende Sonderregelung der Liquiditätszufuhr durch die Annahme von ausfallgefährdeten Staatspapieren gegen Zentralbankgeld der EZB wurde bereits gestoppt. Allerdings hat sie zugleich die Tür für eine Notfalliquidität in Höhe von 60 Milliarden Euro der griechischen Notenbank – formal auf eigenes Risiko – geöffnet. Verläßt Griechenland jedoch die Eurozone, wären diese Kredite verloren. Ähnlich Eurobonds würden sie anteilig von den verbleibenden Mitgliedern getragen. Kurzfristig wären Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um den Grenzübertritt von „Geldkoffern“ zu erschweren.

Dem Fortgang der Eurozone stände ein planvoller, vertraglich einvernehmlich geregelter Austritt Griechenlands besser zu Gesicht. Da eine abwertende Neue Drachme die Rückzahlung der Euro-Schulden in jedem Fall unmöglich macht, wäre ein dritter Schuldenschnitt sowieso unumgänglich. Das Problem: Bei Verbleib in der Eurozone könnten aus rechtlichen Gründen weder der Rettungsfonds noch die EZB diesem zustimmen. Sie würden gegen den Haftungsausschluß (Art. 125 AEUV) und gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) verstoßen. Wie die Unterstützungen an Lettland, Ungarn und Rumänien zeigen, haben EU-Mitglieder außerhalb der Eurozone durchaus Zugang zu Kredithilfen (Art. 143f. AEUV). Griechenland könnte sein Ausscheiden demnach von weiteren, einmaligen Übergangshilfen abhängig machen.

Um eine solide Währung einzuführen, könnte die griechische Regierung ihrer Notenbank das Staatsvermögen von geschätzt 150 bis 300 Milliarden Euro als Sacheinlage überführen. Dies beträfe beispielsweise Energie- und Wasserversorger, den Hafen von Piräus, Regionalflughäfen sowie die Staatsbahn. Mit der Ausgabe von ND-Geld würde die Zentralbank Staatsschulden aufkaufen. Im Umfang des Staatsvermögens könnte sich Griechenland praktisch selbst aus dem Schuldensumpf ziehen. Geplante Privatisierungen könnten ohne Zeitdruck erfolgen, und der Ankauf der Staatsschulden wäre ein erwünschter Nachfrageimpuls für die griechische Wirtschaft.

Die verbleibenden Euro-Mitglieder könnten das Ende mit Schrecken nutzen, um im Rahmen einer Währungskonferenz eine planvolle, gedeihliche Neuordnung der Währungsunion vorzunehmen. Die Vorschläge zu einer Aufspaltung in einen Nord- und Süd-Euro sowie dem Euro als Parallelwährung zu wieder eingeführten nationalen Währungen liegen auf dem Tisch.

 

Prof. Dr. Dirk Meyer, Jahrgang 1957, lehrt Ordnungsöko­nomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten Euro, Wettbewerbs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Fachkräftemangel („Der Mangel hat keine Zukunft“, JF 30/14).

Foto: Euro-Banknote mit gestrichener griechischer Beschriftung: Ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone ist juristisch möglich und ökonomisch geboten

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