© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Besser geschützt, wohlhabend und wachsend
Estland: Kurz vor den Parlamentswahlen liefern sich Bürgerliche und Linkspopulisten ein offenes Rennen / Russen und Moskau als Zünglein an der Waage
Paul Leonhard

Vom Wahlkampf war lange wenig zu spüren. Weder lächelten den Passanten von Plakaten Kandidaten entgegen, noch warben Parteien mit markanten Sprüchen. Doch das liegt nicht daran, daß die Parlamentswahl am 1. März niemanden interessieren. Das wahlkampffreie Straßenbild hängt eher mit einer estnischen Besonderheit zusammen: Der Gesetzgeber läßt Wahlwerbung im öffentlichen Raum nur ab 40 Tage vor dem Wahltermin zu.

Dabei steht es Spitz auf Knopf. Umfragen deuten zwar darauf hin, daß die Mitte-Links-Koalition mit der rechtsliberalen Reformpartei (Eesti Reformierakond, zur Zeit 23 Prozent) des erst 35jährigen Regierungschefs Taavi Roivas und den als konservativ geltenden Sozialdemokraten (20 Prozent) unter Verteidigungsminister Sven Mikser weiter regieren könnte. Doch die linke Zentrumspartei (Keskerakond) liegt mit knapp 22 Prozent in Lauerstellung. Ihr steht der Bürgermeister der Hauptstadt Tallinn (Reval), Edgar Savisaar, vor. Der 64jährige zielt im Wahlkampf vor allem auf die ärmeren Schichten, wenn er unter anderem einen Mindestlohn von 1.000 Euro verspricht und eine progressive Besteuerung. Sie wird auch von der russischen Minderheit, soweit diese wahlberechtigt ist, bevorzugt. Die vierte größere Partei ist die konservative Isamaa ja Res Publica Liit (IRL) von Urmas Reinsalu, die in Umfragen bei 14 Prozent liegt.

Trotz unterschiedlichster Regierungskoalitionen ist Estland seit seiner Unabhängigkeit einen strikt marktwirtschaftlichen und prowestlichen Kurs gefahren. Es ist Mitglied der Europäischen Union und der Nato geworden, hat den Euro eingeführt. Wirtschaftlich gilt es mit seiner schlanken Verwaltung, niedrigen Steuern und einer geringen Staatsverschuldung – mit 10,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die niedrigste in Europa – als Musterknabe.

Kritik aus Brüssel gibt es hinsichtlich des Umgangs mit der russischen Minderheit. Diese hat einen Anteil von 25 Prozent. 1991 hatten sich die zu sowjetischen Zeiten angesiedelten Russen, von denen viele aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse keine estnischen Staatsbürger sind, für die Unabhängikeit von Estlands ausgesprochen. Doch die Zeiten scheinen sich zu wandeln. So ist der Trend zu beobachten, daß viele Russischstämmige alles versuchen, um ihren Kindern eine bessere Integration zu ermöglichen.

Dennoch ist unter dem Eindruck der Ereignisse in der Ukraine die Urangst der Balten, erneut vom russischen Nachbarn überrannt zu werden, akut. So kommt es gut an, wenn Verteidigungsminister Mikser von der Nato eine „Politik der Stärke“ gegenüber Rußland fordert. Der Verteidigungshaushalt wurde um sieben Prozent auf 412 Millionen Euro angehoben. Entsprechend darf der Wahlspruch „Besser geschützt, wohlhabend und wachsend“ des Rechtsliberalen Roivas verstanden werden.

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