© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Da hilft auch kein Grundgesetz
Demographie: Immer mehr Regionen Deutschlands leiden unter Bevölkerungsrückgang – was tun?
Christian Schreiber

Es gibt Situationen, in denen hilft auch das Grundgesetz nicht mehr weiter. „Gleiche Lebensverhältnisse für alle Bürger“ sollten in Deutschland herrschen, doch die Realität spricht eine andere Sprache. „Von Hürden und Helden“ heißt eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung sowie des Generali Zukunftsfonds, die sich mit der veränderten Lebensrealität auf dem Land auseinandersetzt.

Die Forscher kommen zu der Erkenntnis, daß das Ziel, „gleiche Verhältnisse“ zu haben, ohnehin eine Utopie sei. „Es entspricht ohnehin einem westdeutschen Sozialverständnis der Nachkriegszeit, das sich unter der Erwartung dauerhaften Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums tatsächlich in die Fläche tragen ließ“, heißt es. Doch spätestens seit der Wiedervereinigung, als im Osten der Exodus junger Menschen besonders vom Land einsetzte, könne der zuvor so fürsorglich planende und versorgende Staat kaum noch etwas dafür tun, daß sich die Lebensverhältnisse in ökonomisch schwachen ländlichen Gebieten auch nur annähernd an jene der wirtschaftsstarken Metropolen angleichen würden.

Die Autoren schildern den demographischen Wandel einer immer älter werdenden Bevölkerung, der seit 2011 zwar durch eine massive Zuwanderung kurzfristig gestoppt wurde, wohl aber dauerhaft nicht aufzuhalten sei. Zudem seien die Bevölkerungszugänge ausschließlich in Ballungsgebieten zu verzeichnen gewesen.

Vor allem junge Menschen ziehe es auf der Suche nach einem Ausbildungs-oder Studienplatz in die Zentren. „Der demographische Abwärtstrend wird deshalb ungebrochen in vielen ländlichen Regionen weitergehen.“ Die Folge sei eine Abwärtsspirale, die nur schwer zu durchbrechen sei. Die Landbevölkerung müsse sich vielerorts mit einer schlechter werdenden Versorgung zufriedengeben, weil mit den Einwohnerzahlen die Nachfrage nach Waren, Dienstleistungen sowie Bildungs- und Kultur-angeboten sinke und herkömmliche Versorgungsangebote die Grenzen der Finanzierbarkeit unterschreiten.

„Um die Versorgung aufrechtzuerhalten, sind deshalb neue, bedarfsorientierte Lösungen notwendig“, fordern die Autoren, kritisieren aber gleichzeitig, daß die Bürokratie innovative Ansätze erschwere. In weiten Teilen der Verwaltung herrsche „eine 100 Prozent-Denke“, die dazu führe, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: „nämlich die Erkenntnis, daß unter diesen Bedingungen Versorgungsangebote ganz verschwinden, wenn sie nicht an die 100-Prozent-Vorgabe herankommen.“ Reiner Klingholz, der Geschäftsführer des Berlin-Instituts, sieht in dieser Denkungsweise ein zentrales Problem. Grundsätzlich könne man niemandem vorschreiben, in eine größere Stadt zu ziehen, wenn die Angebote da besser seien. Aber es sei Augenmaß gefordert, um bestehende ländliche Strukturen nicht noch schwächer zu machen: „Wir müssen weg von unserer heutigen Vorstellung einer Vollversorgung. Es gibt eine Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und Standards, die alles regeln – Klassengrößen, Straßenbreiten, wer Personen und Güter transportieren darf und so weiter. Wenn diese Normen nicht hundertprozentig erfüllt sind, werden Einrichtungen geschlossen oder Leistungen auf null gesetzt. Ganz häufig würden aber auch 90 Prozent Leistung reichen“, erklärte er gegenüber Spiegel Online.

Die Leidtragenden dieser Entwicklung seien dann vor allem ältere Menschen, „nicht mehr umziehen können oder umziehen wollen, weil die Immobilienpreise für ihr Eigenheim im Keller sind“. In ihrer Studie stellen die Autoren 37 Institutionen und Personen vor, die „gegen den Strom schwimmen und das Herz in die eigene Hand nehmen“, wie es blumig heißt.

Bürgerengagement wird nicht immer honoriert

Dies sei vorbildlich und nötig, denn mit abnehmender Bevölkerungszahl sänken die Bedürfnisse in ländlichen Regionen nicht: „Auch wenn in vielen ländlichen Regionen zunehmend weniger Menschen leben, bleiben die Erwartungen an die Versorgung gleich. In einigen Bereichen dürften sie mit der Alterung der Bevölkerung sogar zunehmen. Wo vergleichsweise viele ältere Menschen leben, treten chronische Erkrankungen häufiger auf. Zudem steigt die Zahl der Menschen, die pflegebedürftig und auf Unterstützung angewiesen sind.“ Häufig behindere jedoch ein Festhalten an starren Auflagen, Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften den Tatendrang vor Ort: „ In einigen Fällen sind es dann mutige Verwaltungsangestellte, die mit einer ‘kreativen’ Anwendung von Ausnahmeregelungen ein Überspringen dieser Hürden ermöglichen oder Wege finden, wie sich gesetzliche Grenzen ausreizen lassen.“

Als Beispiel zur Entlastung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wird das Konzept des Bürgerbusses genannt. Die Idee stammt aus Großbritannien und kam über die Niederlande, wo seit 1977 „Nachbarschaftsbusse“ mit Erfolg erprobt worden waren, in das angrenzende Münsterland. Inzwischen rollen Bürgerbusse auch in Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. In den östlichen Bundesländern sind sie dagegen immer noch selten, obwohl der Bedarf dort groß wäre.

Bernd Hölder aus Brandenburg hat sich dieses Problems vor Ort angenommen und ist erst mal auf viel Widerstand gestoßen. Vor Jahren fesselte ihn ein Beinbruch an den Sessel, der Bus, der ihm zum Arzt bringen sollte, fuhr während der Schulferien nur einmal wöchentlich. „Zunächst konnte keiner auch nur mit dem Begriff Bürgerbus etwas anfangen. Und als die Sache konkreter wurde, haben wir fast ein Jahr gebraucht, bis wir wußten, wer wofür zuständig ist und wen wir ansprechen müssen“, erzählt er rückblickend. Immerhin: Seit 2006 fährt der „Bürgerbus Hoher Fläming“, doch es war nervenaufreibend: „Der ÖPNV hat zuerst Konkurrenz gewittert, es herrschte ein mangelhaftes Problembewußtsein, die Finanzierung sei schwierig gewesen, „denn wer gibt einem Amateur-Projekt schon einen Kredit für einen Bus.“ Doch mit viel Mühe, Geduld und der Unterstützung einiger Lokalpolitiker sei es schließlich gelungen.

Ebenfalls in Brandenburg entstand die Idee der „pinken Karte“. Thomas Winkelkotte war bewußt aufs Land gezogen, um alternative Formen des Wirtschaftens wie Selbstversorgung und Tauschmärkte zu erproben. Der zündende Gedanke kam ihm beim Trampen. Die Autofahrer, die ihn zum Mitfahren einluden, betonten stets, sie hätten dies getan, weil sie ihn als Nachbarn erkannt hätten. Ein Erkennungszeichen war also nötig, wenn man Menschen dazu bewegen wollte, Unbekannte in ihr Gefährt einzuladen, überlegte Winkelkotte – und entwickelte daraus die Idee einer „Mitfahrdezentrale“ für Märkisch-Oderland. Ein Aufkleber in grellem Pink auf der Windschutzscheibe signalisiert Mitnahmebereitschaft, ein Ausweis in gleicher Farbe zeigt an, daß die Person, die an der Bushaltestelle steht und ihn hochhält, gern mitgenommen würde. Ein einfaches Konzept und es funktioniert. Winkelkotte gewann 2012 bei dem Programm „Neulandgewinner“ der Robert-Bosch-Stiftung einen Förderbeitrag von 50.000 Euro. Dennoch habe er auch hier Hürden überwinden müssen, generell sei „eine gewisse Hemmschwelle zu spüren, andere Menschen mitzunehmen oder zuzugeben, daß man auf andere Menschen angewiesen ist“, sagt Winkelkotte.

Oft steht die Bürokratie sich selbst im Wege

Ein anderes Beispiel für eine funktionierende Zusammenarbeit kommt aus dem thüringischen Kyffhäuserkreis. Abwanderung hatte dazu geführt, daß immer mehr Regelschulen den Betrieb aufgeben mußten. Durch eine Initiative des Landkreises schuf das Land 2010 die Möglichkeit, „Thüringer Gemeinschaftsschulen“ zu gründen. In diesen lernen die Kinder bis zur achten Klasse gemeinsam. Erst dann müssen sie entscheiden, ob sie eine gymnasiale Laufbahn anstreben. Dadurch können sie länger in Wohnortnähe zur Schule gehen, ohne Nachteile auf dem Weg zum Abitur hinnehmen zu müssen. Auch bei der Nutzung von Gebäuden zeigte man sich kreativ. Als Schülerzahlen einer Grundschule abnahmen und auch die Kindertagesstätte Nachwuchsprobleme meldete, legte man beides einfach zusammen. Dafür habe man „manche Statuten gebogen“, heißt es. Doch die Vorteile liegen auf der Hand. Der Übergang von der Kita zur Schule und die Abstimmung zwischen Erziehern und Lehrern werden erleichtert, zudem Familien entlastet, indem Kinder unterschiedlichen Alters denselben Weg haben. Der Kreis und die Gemeinde sparen bei den Investitionen wie auch bei den Betriebs- und Personalkosten, weil sich beispielsweise ein Hausmeister um beide Einrichtungen kümmern kann.

Auch aus dem Bereich Pflege und medizinische Versorgung schildern die Autoren interessante Modelle. Eine Zahnärztin im Osten fährt mit dem Auto zu Patienten, die es nicht mehr aus eigener Kraft zu ihr in die Praxis schaffen. In fünf Jahren hat sie mehr als 20.000 Kilometer zurückgelegt, 450 Patienten in mehr als 2.500 Terminen behandelt, zu Beginn unter Einsatz eigener Mittel.

Erst seit der Pflegereform 2013 ist es möglich, die Fahrtkosten und Hausbesuchszuschläge abzurechnen. Die ursprüngliche Idee, einen Kleinbus zum Behandlungszimmer umzubauen, durfte nicht umgesetzt werden. Das hätte als verbotene „zahnärztliche Tätigkeit im Umherziehen“ gegolten. Die Zahnärztin sucht dabei vor allem pflegebedürftige Patienten auf, die oft jahrelang gar nicht mehr beim Zahnarzt waren. Nachahmer hat sie auch gefunden, die Begeisterung bei älteren Menschen ist groß.

Doch nicht überall rechnet sich das Konzept. Die „rollende Arztpraxis“ im niedersächsischen Landkreis Wolfenbüttel war nur anderthalb Jahre lang unterwegs und wurde Ende 2014 stillgelegt – es war zu teuer. „Hier muß der Staat auch künftig Möglichkeiten schaffen, diese Projekte zu fördern“, heißt es in der Studie. Zudem müßten Politik und Gesellschaft künftig folgende zentrale Fragen beantworten: „Muß die ärztliche Berufsordnung verhindern, daß eine Zahnärztin wenig mobile ältere Patienten nach Bedarf mit ihrer rollenden Praxis aufsuchen darf? Muß die Freiwillige Feuerwehr in einem kleinen Dorf die gleichen hohen Standards erfüllen wie in einer dicht besiedelten Gegend? Ergibt es irgendeinen Sinn, den Transport von Personen, Gütern des täglichen Bedarfes und Medikamenten für die alternde Bevölkerung in ein und demselben Fahrzeug mit getrennten Gesetzen für die Personen- und die Güterbeförderung zu verunmöglichen?“ Denn viele Probleme, so das Fazit, seien erst entstanden, weil die Deutschen Meister darin sind, sich mit Verwaltungs- und Planungsvorgaben Probleme überhaupt erst zu schaffen.

Foto: Leere Gassen im 2.000-Seelen-Dorf Kürnbach (Landkreis Karlsruhe): Nicht nur im Osten der Republik, auch in ländlichen Regionen Baden-Württembergs hinterläßt der Einwohnerrückgang eine Vielzahl von Problemen – geschlossene Geschäfte, schlechte Infrastruktur, fehlende Ärzte

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