© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Sachsens helle Haufen
Pegida: Die Lektüre von Erzählungen Volker Brauns kann helfen, die Protestbewegung zu verstehen
Thorsten Hinz

Wer nach Erklärungen für die aktuelle Protestbewegung in Deutschland sucht und warum sie ihren Ausgangspunkt ausgerechnet in Mitteldeutschland hat, kann auf die Qualitätspresse getrost verzichten. Weiterführend sind dagegen drei Texte, die der Schriftsteller Volker Braun, ein gebürtiger Dresdner, Büchner-Preisträger und marxistischer Denker, seit 1989 verfaßt hat.

Den Kinderglauben, daß der Mauerfall das Ende der Geschichte besiegele, hat er nie geteilt. Viel eher befürchtete er eine reaktionäre Rückwärtsrolle, weil dem Kapitalismus die Systemkonkurrenz, die ihn gezähmt hatte, abhanden gekommen war. Im Februar 1991 äußerte er in einem Zeitungsinterview sein Bedauern darüber, daß die Wiedervereinigung nicht zur gegenseitigen Prüfung der Bestände genutzt worden sei. So hätte man „den ideologischen und materiellen Nepp beider Systeme aufgewirbelt. Aber nichts da, die eine Struktur schiebt sich über die andere wie Lava.“ Nostalgische Gefühle gegenüber dem SED-Regime lagen ihm dabei fern. „Ich sage nicht, daß es nicht mit Recht zugrunde geht: aber das Elend ist, daß das Bleibende so ganz ins Recht gesetzt wird.“ Um das zu korrigieren, blieben nun „so unpraktische Dinge wie Demonstrationen und die Literatur“.

2011 veröffentlichte Braun die Erzählung „Helle Haufen“. Realer Hintergrund der Handlung ist die Schließung des Kalibergwerks „Thomas Müntzer“ im thüringischen Bischofferode 1993. In der Erzählung heißt der Ort vielsagend Bitterode. Der Schacht war rentabel und das geförderte Salz von einzigartiger Qualität. Es ging allein darum, der Konkurrenz im Westen das Monopol zu sichern. Die Bergarbeiter kämpfen mit Werksbesetzungen und Hungerstreiks um ihre Arbeitsplätze. Eine Abordnung wurde beim Papst vorstellig, eine andere zog zu Fuß nach Berlin zur Treuhand, die im ehemaligen „Haus der Ministerien“ der DDR residierte. Doch niemand schloß sich an, der 17. Juni blieb unwiederholbar. Die Landesregierung räumte ihre Machtlosigkeit ein. „Ich habe in die kalte Fratze des Kapitalismus geblickt“, sagte ein erschütterter Ministerpräsident Bernhard Vogel von der CDU.

Neben der materiellen erlebten die Arbeiter die ideelle Enteignung, die Enteignung ihrer 1989 erprobten Kraft. Scheinbar hatten sie alles bekommen, was sie wollten: die Demokratie, den Rechtsstaat, doch die nützten ihnen jetzt gar nichts. „Sie standen (...) nicht einer Macht gegenüber, wie 89, es waren Mächte. Sie würden hingehalten werden. Sie würden demokratisch ausgehungert werden.“

Literarische Fiktion führt über die Geschichte hinaus

Reiner Kunze hatte 1969 in dem Gedicht „Dialektik“ die Unterdrückungspraxis der DDR auf die Formel gebracht: „Unwissende damit ihr / unwissend bleibt // werden wir euch / schulen.“ Braun münzte das auf die neue, raffiniertere Art der Fremdbestimmung um: „Unnütze, damit ihr / unnütz bleibt, werden wir euch / umschulen.“

Ab diesem Punkt führt die literarische Fiktion über die tatsächliche Geschichte hinaus. Bitterode liegt nahe den Stätten des Bauernkrieges. Statt zu resignieren, entsinnen die Figuren sich des Namenspatrons Thomas Müntzer und wagen den Aufstand. Vorbild ist der „Schwarze Haufen“, eine gut organisierte Formation unter Führung von Florian Geyer, die um 1525 den fränkischen Adel in Angst und Schrecken versetzte. Die Erhebung wird erstickt. „Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, daß sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte“, heißt es zum Schluß.

Demütigungen im Zuge der Wiedervereinigung

Braun erweiterte und vertiefte hier ein Motiv, daß er 1991 in dem Text „Die Leute von Hoywoy“ hatte anklingen lassen. Er geht darin um die wüsten Ausschreitungen vor einem Asylantenheim im sächsischen Hoyerswerda. Der Autor bleibt bei der moralischen Verurteilung nicht stehen, sondern deutet sie als Reaktion auf Demütigungen im Zuge der Wiedervereinigung. Die „Leute von Hoywoy“ erleben sich als materiell Enteignete und moralisch Kolonisierte. Die ungefragte Unterbringung von Asylbewerbern ist nur die neueste Demonstration fremder Übermacht, die das Faß zum Überlaufen bringt. „Man war mit ihnen umgesprungen, wie (...) kein Polizist es einst gewagt hatte. Es war etwas hereingebrochen, eine namenlose, eine Naturgewalt, die das Gelände entseelte und die Betriebe verödete (…) Sie waren selber Fremde, im Ausland hier, auf der Flucht.“

Sie sehen sich einer Allianz aus harten ökonomischen Gesetzen und der humanitaristischen Sprache der saturierten Westlinken gegenüber. Diese Sprache vollendet die Entfremdung. Sie ertränkt die konkreten Erfahrungen erneut in einer oktroyierten Ideologie.

Anders gesagt: Die arrivierten Kritiker des Kapitalismus sind selber parasitär geworden und ihre ideologische Vorherrschaft gemeingefährlich. Ausgeführt wird das in der Eingangserzählung des Bandes „Das Wirklichgewollte“ aus dem Jahr 2000.

Professor Badini, Sohn eines Maurers, hat den sozialen Aufstieg geschafft und bewohnt mit seiner Frau ein idyllisch gelegenes Bauernhaus in der Toskana als Alterssitz. Der Zusammenbruch des Ostblocks hat ihm sein Lebensthema, „la rivoluzione“, genommen, doch inzwischen überwiegt das zynische Einverständnis mit den Umständen.

Eines Abends findet das Ehepaar im Haus Einbrecher vor, Luisa und Gjergj, ein junges Paar aus Albanien, das sich der Abschiebung entzogen hat. Statt die Polizei zu alarmieren, geben die kinderlosen Badinis ihnen Obdach – in Erinnerung an die alte Revolutionsromantik, aus schlechtem Gewissen, aus Selbstliebe. Auch unausgelebte Elterninstinkte und sinnliches Begehren spielen mit hinein. Die Albaner sind froh und zugleich verunsichert, dann irritiert und schließlich angewidert davon, als Objekte fremder Phantasien, Projektionen und Gelüste herzuhalten. Das alte Ehepaar glaubt noch, die Situation zu beherrschen, als die Jungen seine Schwäche längst erfaßt haben und aus ihrer Bittsteller- und Objektrolle heraustreten. Am Ende flüchten der Professor und seine Frau mit einer klaffenden Stichwunde und gebrochenen Armen in das obere Stockwerk des Hauses.

Die letzten Sätze könnten dem Drehbuch eines Horrorfilms entstammen: „Sie hatten eine Stunde hilflos gelegen, als sie ein Geräusch im Haus vernahmen, hart die Treppe herauf; Gjergij schlich, ein Grinsen im jungen Gesicht, herein, hinter ihm das Weib, das Ehepaar sah sie mit einem Gefühl der Erleichterung und des Entsetzens an, und Badini fragte: Was wollen sie?“

Die Antwort fällt leicht: Sie wollen das gute Leben und die Nachfolge der Badinis antreten, die ihnen so bereitwillig die Tür geöffnet haben. Das Schicksal der Alten hängt jetzt allein davon ab, ob sie noch als nützlich oder als hinderlich erachtet werden. Erledigt sind sie so oder so. Sie verweisen auf keine geschichtliche, praktische oder sonstige Perspektive mehr. Die Protestierer von heute haben begriffen, daß es höchste Zeit ist, sich aus ihrer ideologischen Umklammerung zu lösen.

Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung Suhrkamp, 2011, gebunden, 96 Seiten, 14,90 Euro

Foto: Pegida-Demonstration in Dresden (25. Januar): Es ist höchste Zeit, sich aus der ideologischen Umklammerung zu lösen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen