© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Zeitschriftenkritik: Der Spiegel – Geschichte
Freispruch für das Mittelalter
Marcus Schmidt

Kaum eine Epoche fasziniert die Menschen unserer Tage so sehr wie das Mittelalter. Gleichzeitig hat keine andere ein so schlechtes Image. Die Mär vom finsteren, grausamen und im Gegensatz zu Antike und Renaissance in jeder Hinsicht rückschrittlichen Zeitalter ist immer noch weit verbreitet, auch wenn die Forschung längst schon andere Wege geht.

Das neueste Heft aus der Geschichts-Reihe des Spiegel springt der meist abseits der öffentlichen Wahrnehmung forschenden Mediävistik nun in gewohnt farbenprächtiger Weise mit Verve zur Seite. Wie ein roter Faden durchzieht das Heft das Bestreben, mit weitverbreiteten Legenden aufzuräumen. „Gäbe es so etwas wie ein Antidiskriminierungsgesetz für Epochen, daß Mittelalter wäre unter den Nutznießern ganz vorn dabei“, geben die Autoren ihre Marschrichtung vor und präsentieren in der Folge eine Reihe von anschaulichen Beispielen. Etwa, daß die Vorstellung, die Erde sei eine Kugel, mitnichten eine Außenseiterposition war – im Gegenteil. Oder, daß die Menschen im mittelalterlichen Europa jung heirateten und dann eine Großfamilie gründeten. Von wegen: So lag das Heiratsalter beim Männern in Nürnberg des 13. und 14. Jahrhunderts bei etwa 40 Jahren. Hintergrund: Erst dann waren sie meist, wie von der Gesellschaft gefordert, in der Lage, eine Familie zu ernähren. Auch andere „Familienlegenden“ erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht tragfähig. Mitnichten dominierte im Mittelalter etwa die generationsübergreifende Großfamilie. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit waren Familien mit zwei bis drei Kindern die Regel – nicht viel anders als heute.

Selbst vor der berüchtigten heiligen Inquisition, deren Name heute noch den Menschen einen Schauer über den Rücken jagt, machen die Autoren nicht halt. Sie erklären die kirchliche Gerichtsbarkeit aus der Zeit heraus und kommen zu dem Schluß: Die Inquisition war besser als ihr Ruf. Sie verweisen unter anderem darauf, daß etwa das Führen von Protokollen während der Prozesse durchaus einen Fortschritt darstellte, ebenso wie die Abkehr von der Praxis der Gottesurteile.

Doch das Themenheft zum Mittelalter erschöpft sich nicht darin, Überraschendes aneinanderzureihen. Wie im Untertitel ausgewiesen, stehen „die Menschen im Mittelalter“ im Mittelpunkt des Interesses und nicht die sattsam bekannten Herrscher- und Dynastiegeschichten. Das ist alles ausgesprochen kurzweilig umgesetzt, und so bietet das Heft in populärwissenschaftlicher Weise ein anschauliches und überraschendes Bild dieser so fernen Epoche zwischen den Jahren 500 und 1500.

Wie weit das Mittelalter in die Populärkultur der Gegenwart reicht, zeigt der Titel des Heftes. Ihn ziert ein Bildnis Uta von Naumburgs. Sie diente ausgerechnet Walt Disney in den dreißiger Jahren als Vorlage für die böse Stiefmutter im Zeichentrickklassiker „Schneewittchen“.

Kontakt: Spiegel-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Tel.: 040 / 3007-0. Das Heft kostet 7,80 Euro. http://www.spiegel.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen