© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Er ist wieder da
Vor 200 Jahren kehrte Napoleon von Elba nach Paris zurück: Die Franzosen bereiteten ihrem „Empereur“ einen triumphalen Empfang
Karlheinz Weissmann

Die Szene gehört sicher zu den eindrucksvollsten, um die Macht der Persönlichkeit zu illustrieren: der kleine Mann mit vorspringendem Bauch, den Zweispitz auf dem Kopf, im einfachen grünen Rock der Gardejäger, darüber den langen grauen Mantel, tritt vor die Soldaten des 5. Infanterieregiments, die gekommen sind, um seinen weiteren Vormarsch aufzuhalten, die Gewehre im Anschlag. Er geht auf sie zu, schlägt den Mantel zurück, bietet ihnen die Brust: „Wenn unter euch ein Soldat ist, der seinen Kaiser töten will, – hier bin ich!“ Man hört den Feuerbefehl, aber kein Schuß löst sich aus dem Lauf, und nach einem kurzen Moment der Irritation brechen die ersten in den Ruf aus „Vive l’Empereur!“ – „Es lebe der Kaiser!“, stürzen auf ihn zu, schreiend, gestikulierend, manche mit tränenüberströmtem Gesicht, reißen die verhaßten Abzeichen von den Uniformen, umarmen einander, fallen auf die Knie, versuchen wenigstens seinen Mantel oder seine Stiefel zu berühren.

Abgespielt hat sich das Geschehen am 5. März 1815, bei dem Dorf Laffrey, vor den Toren von Grenoble. Da lag die Flucht Napoleons von seinem Verbannungsort, der Mittelmeerinsel Elba, schon Tage zurück. Am 26. Februar hatte er sich in aller Heimlichkeit aufgemacht, mit sieben kleineren Schiffen und den ihm verbliebenen elfhundert Mann, darunter siebenhundert Grenadiere der Alten Garde. Man entging der Aufmerksamkeit der britischen Schiffe, steuerte zuerst die italienische Küste an, um dann Kurs nach Westen zu nehmen und am 1. März in der Nähe von Cannes zu landen. Bis dahin verlief alles nach Plan.

Die nach Napoleons Sturz im Vorjahr zurückgekehrten Bourbonen wiegten sich in Sicherheit, die Sieger – Großbritannien, Rußland, Österreich und Preußen – glaubten nach wie vor Herren der Lage zu sein. Immerhin hatten sie Napoleon eine Art von Spielzeugstaat im Mittelmeer überlassen, den er nach Gutdünken verwalten und regieren durfte. Die Aufsicht war lässig, und abgesehen von mehr oder weniger ernsthaften Anschlagsabsichten hatte Napoleon wenig zu fürchten. Das Verhalten seiner Frau Marie-Louise, einer geborenen Habsburgerin, schmerzte ihn zwar, weil sie es vorzog, am Wiener Hof zu bleiben und nicht mit ihm und dem gemeinsamen Sohn das Exil zu teilen, und dasselbe galt für die Treulosigkeit manches Großen, den das Kaiserreich groß gemacht hatte.

Napoleons „Souveränität über ein Gemüsebeet“

Aber das eigentliche Problem lag doch in der Unmöglichkeit, die titanische Natur Napoleons in diese beschränkten Verhältnisse zu zwingen. Die „Souveränität über ein Gemüsebeet“, wie der Schriftsteller Chateaubriand spöttisch bemerkte, konnte ihn kaum befriedigen. Die etwas über zweihundert Quadratkilometer Elbas mit Straßen und Wegen zu versehen, ein Theater zu errichten und der ärmlichen Bevölkerung den Anbau von Kartoffeln und Oliven beizubringen, genügte seiner Tätigkeitswut schon bald nicht mehr. Ein nordafrikanischer Freibeuter machte im kleinen Hafen von Portoferraio fest und fragte erstaunt, ob „der Gott der Erde“ immer noch auf der Insel sei.

Für die europäische Öffentlichkeit war er immerhin „der Mann“, aber man hielt ihn für unschädlich gemacht. Ein Ungeheuer, aber jetzt schon ein interessantes, Devotionalien wurden zu hohen Preisen gehandelt, britische Touristen in Florenz kauften alle Büsten des Kaisers auf.

Währenddessen steigerte sich Napoleons Ruhelosigkeit von Woche zu Woche, auch weil ihm deutlich vor Augen stand, wie unrühmlich sein Abgang im Vorjahr gewesen war, wie groß die Ungeschicklichkeit der Bourbonen, wie günstig die Sorge des Volkes angesichts der „Restauration“. Wenn Napoleon gegenüber seiner skeptischen Umgebung auf Elba behauptete, in Paris sei eine Revolution ausgebrochen und man rufe ihn, handelte es sich zwar um eine wohlkalkulierte Lüge. Aber tatsächlich zeichnete sich auf dem Festland das Entstehen einer Bewegung ab, die man einige Zeit später als „bonapartistisch“ bezeichnete.

Der Bonapartismus war immer eine schillernde politische Größe, was ganz wesentlich aus dem „Regime der hundert Tage“, zwischen der Rückkehr von Elba und dem militärischen Fiasko bei Waterloo im Juni 1815, zu erklären ist. Denn anders als in der Zeit, in der er seine Herrschaft zuerst errichtet hatte – nach dem Militärputsch vom „18. Brumaire“ 1799, dem Aufbau des autoritären Konsulats und dem Übergang zum Kaisertum im Jahr 1804 –, sah sich Napoleon jetzt gezwungen, nicht nur pro forma, sondern tatsächlich auf die Franzosen Rücksicht zu nehmen.

Er hat um diese Notwendigkeit gewußt, aber sie hat ihn auch dauernd irritiert. Er kalkulierte selbstverständlich mit der Feindseligkeit des Klerus und der Emigranten einerseits, der Anhänglichkeit der Armee, die murrend auf Trikolore und Adler verzichtet hatte, um das königliche Weiß und die Lilien aufzustecken, andererseits. Aber die Frage war offen, wie sich die Bourgeoisie verhalten würde, die der neue „liberale“ Zeitgeist erfaßt hatte, und wie der Plebs, in dessen Köpfen die alten Losungen der Jakobiner weiterlebten. Als die Nachricht von Napoleons Marsch von der Küste nach Paris in Lyon bekannt wurde, hatten sich Arbeiter, Handwerker und einfaches Volk auf den Straßen gesammelt und nicht nur Hochrufe auf den Kaiser ausgebracht, sondern auch skandiert „Nieder mit den Pfaffen!“, „Die Aristokraten an die Laterne!“, „In die Rhone mit den Reichen!“.

Die Macht ohne einen Schuß wiedererlangt

Die neue Verfassung, die Napoleon nach seiner Rückkehr in die Tuilerien am 20. März 1815 ausarbeiten ließ, entsprach allerdings ganz dem Modell einer konstitutionellen Monarchie, mit Vorzug für die besitzenden Schichten und Kontrolle der Regierung durch die Kammern des Parlaments. Umgesetzt werden konnte die Ordnung des neuen „empire“ jedoch nur ansatzweise. Dazu war die verbleibende Zeit zu kurz, der Druck der militärischen Entwicklung zu stark. Napoleon hat sicher früh geahnt, daß er das Versprechen „Das Kaiserreich ist der Frieden!“ nicht halten konnte.

Zwar gelang es ihm, ohne einen Schuß die Macht in Frankreich wiederzuerlangen – die ihm entgegengeschickten Truppen handelten praktisch alle wie die des 5. Infanterieregiments –, Ludwig XVIII. floh resigniert und überließ ihm die Hauptstadt, wo er von jubelnden Menschen, dann von den ehemaligen Mitgliedern seines Hofes empfangen wurde, aber die Boten, die er an die in Wien versammelten Repräsentanten der Siegermächte schickte, um ihnen ein Verhandlungsangebot zu machen, konnten die Grenzen Frankreichs nicht überschreiten. Großbritannien, Rußland, Österreich und Preußen hatten Napoleon für geächtet erklärt, „als Feind und Störer der Ruhe der Welt“.

Foto: Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba, Grenoble am 5. März 1815: „Wenn unter euch ein Soldat ist, der seinen Kaiser töten will, – hier bin ich!“

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