© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Sehnsuchtsorte geistig polonisieren
Eine Dissertation über die polnische Westforschung umschifft penibel den chauvinistischen Wesenskern
Stefan Scheil

Es sind auch heute noch immer nicht gerade wenige Menschen der Ansicht, die Oder-Neiße-Linie als Grenze zu Deutschland sei der Republik Polen 1945 von den Großmächten geradezu aufgezwungen worden. Lange Zeit wurde auch zwischen Ostsee und Beskiden an diesem Mythos geschraubt, um nicht zuletzt Stalin die alleinige Verantwortung für die „Westverschiebung Polens“ anzulasten. Für diejenigen, die es besser wissen, bleiben die Details und die intellektuelle Vorgeschichte dieser Grenzziehung weiterhin eine spannende und noch nicht ganz aufgeklärte Angelegenheit.

So werden sie denn eine Dissertation begrüßen, die die polnische „Westforschung“ zum Thema hat, also den erstaunlichen Versuch von Teilen der polnischen Geschichtsschreibung und politischen Geographie, genau eine solche Grenze bereits lange vor ihrer Ziehung zu begründen. Die Vorgeschichte dieses Versuchs reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück und wurde bereits mehrfach erforscht, so in der Dissertation von Roland Gehrke über den „polnischen Westgedanken“ bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (JF 19/02).

Gernot Briesewitz legt nun eine weitere Dissertation zum Thema vor, die sich mit der späteren polnischen „Westforschung“ zwischen 1918 und 1948 beschäftigt. Er hat sich dabei manches Verdienst erworben. Leider nur „manches“, denn insgesamt bleiben mehr Fragen offen, als nötig gewesen wäre. Man kann dies zum einen dem unzureichenden Zugang zum Stoff zuschreiben. Das Lieblingswort von Briesewitz ist „konstruieren“. Es kommt im Buch auf dessen fast 500 Seiten nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich sicher mehr als eintausendmal vor. Da werden Kulturräume konstruiert, Erinnerungslandschaften, „mental maps“ und vieles andere mehr. Das ist zum einen natürlich der Last des Doktoranden zuzuschreiben, der sich redlich bemüht, den begrifflichen Anschluß an die aktuelle Debatte zu wahren. Zugleich zeigt es auf ein großes Problem heutiger Geschichtsschreibung. Wo zu allen Zeiten alles konstruiert ist, ist nichts mehr wirklich real.

„Westforschung“ ganz im Dienst der nationalen Sache

So ist die Arbeit ein plastisches Beispiel für die Probleme, welche die aktuelle Geschichtswissenschaft nach ihren zahlreichen methodischen „Wenden“ mit der vergangenen Realität hat. In der Einführung läßt der Autor zum Beispiel programmatisch wissen, er werde sich mit der von ihm in Anführungszeichen gesetzten „Wahrhaftigkeit“ der polnischen Westforschung nicht beschäftigen. Er wolle nur deren Geschichtsbilder und Raumvorstellungen herausarbeiten.

Ob die starken Behauptungen der polnischen Historiker über den polnischen Charakter des alten deutschen Ostens auch zugetroffen haben oder wenigstens Irrtümer in gutem Glauben waren, interessiert ihn demnach nicht. Nun läßt sich aber nicht ernsthaft die Struktur einer angeblich wissenschaftlichen Debatte ohne die Berücksichtigung der Frage erforschen, ob die Beteiligten überhaupt an Tatsachen interessiert waren oder eben schlicht zusammenphantasierten, was ihnen gerade so einfiel.

Briesewitz tut es trotzdem, und damit er bei seiner zusammenhangfreien Untersuchung nicht gestört wird, stellt er zwar zunächst ausdrücklich die Frage, ob sich die polnische Westforschung „ganz in den Dienst der nationalen Sache gestellt“ habe. Eine Seite weiter erfahren wir dann aber, daß er diese Frage nicht im Detail zu beantworten gedenkt. Der Grund ist erheiternd: Das „umfangreiche politische Engagement einiger Westforscher“ habe ihn im Gegenteil dazu gezwungen, sämtliche tagespolitischen Aktivitäten der Westforscher in Form von Zeitungsartikeln und Aufsätzen zu den deutsch-polnischen Beziehungen unberücksichtigt zu lassen. Die Stoffmenge ist also nicht zu bewältigen gewesen.

Das ist auf eine eigentümliche Art natürlich auch eine Antwort, die man sich im Klartext leider selbst geben muß. Ja, die polnische Westforschung war im wesentlichen Teil geprägt von politischem Eifer. Ihr Kernelement, das Bild des perfiden deutschen Landräubers, der nur durch mangelnde Wachsamkeit der mittelalterlichen polnischen Krone jenseits der Oder anzutreffen sei und dort keinerlei Existenzrecht habe, wurde Teil der polnischen Vorkriegspropaganda. Daß dies von Briesewitz zwar indirekt eingestanden wird, aber trotz seiner guten Quellenkenntnis aufgrund seiner Verweigerungshaltung unerforscht bleibt, macht die Arbeit leider teilweise zu einer verschenkten Chance. Dennoch bleibt dieser Einblick in die Gedankenwelt eines Teils der polnischen akademischen Elite wertvoll. Allein der Hinweis auf die zahlreichen Quellen, die Briesewitz erschlossen hat, wird sicher für weitere Untersuchungen bedeutend sein.

Zur Ehrenrettung der polnischen Wissenschaften muß gesagt werden, daß die „Westforschung“ auch in Polen nie unumstritten war. Ihre Behauptungen über einen seit dem Mittelalter durchgängig anhaltenden geopolitischen deutsch-polnischen Konflikt wurden teilweise scharf zurückgewiesen.

Nach 1945 änderten sich dann die Aufgaben an die Westforschung, oder man könnte auch sagen, sie spitzten sich zu. Was man vor 1939 als „eigentlich polnisch“ beansprucht hatte, war nun tatsächlich unter polnische Kontrolle geraten. Briesewitz spricht davon, die Westforscher hätten nun die Vergangenheit der neu erworbenen Gebiete „rekonstruieren“ müssen. Auch hier wird die Schwierigkeit deutlich, mit dem Konstruktionsvokabular zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden. Wo vorher nichts war, ist auch nichts zu „re“-konstruieren. So behielt die Westforschung den politischen Charakter und prägte teilweise die heute noch wirksamen Lebenslügen der polnischen Gesellschaft über die stets slawische Vergangenheit von Schlesien oder Pommern mit. Auch diese Ansichten werden sich wohl noch eine Weile halten.

Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918–1948. Fibre Verlag, Osnabrück 2014, broschiert, 526 Seiten, Abbildungen, 39,80 Euro

Foto: Deutsch-polnische Grenze auf Usedom; polnisches Propagandaplakat mit territorialen Ansprüchen im Westen aus den dreißiger Jahren: Geschichte der nach 1945 neu erworbenen Gebiete „rekonstruieren“

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