© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Die Lücken werden mit
Ideologie gefüllt Schulsystem: Was ein eigenständiger Geschichtsunterricht leisten sollte
Karlheinz Weissmann

Seit diesem Jahr wird an den Schulen Berlins für die Klassen 5 und 6 kein Geschichtsunterricht mehr erteilt. Elemente des Fachs, neben anderen aus den Bereichen der Politischen Bildung und der Geographie, sollen in die Gesellschaftskunde übernommen werden. In den Klassen 7 und 8 erhält Geschichte seine Selbständigkeit im Kanon zurück, allerdings werden die Inhalte nicht mehr an der Chronologie, sondern an historischen Querschnitten ausgerichtet.

Das Interesse an dem Vorgang bleibt gering. Das gilt schon für Berlin selbst, aber erst recht für die Öffentlichkeit jenseits der Landesgrenzen. Ein Grund ist die Ermüdung in bezug auf schulpolitische Themen, ein zweiter die Fixierung auf organisatorische Fragen – G8 oder G9, gegliedertes oder integriertes Schulsystem, Inklusion oder Sonderförderung von Behinderten –, ein dritter das Desinteresse an der Bedeutung des Fachs Geschichte.

Tatsächlich darf die Argumentation der Berliner Senatsschulverwaltung, das Vorgehen werde zu einer „Verschlankung“ des Lehrplans führen, „überflüssiges“ Pauken ersparen und die „Kompetenzorientierung“ sicherstellen, auf allgemeines Wohlwollen rechnen, während die Zahl der Kritiker so klein ist, daß sie kaum Aussicht auf Gehör hat, geschweige denn ihre Sicht der Dinge durchsetzen und die Realisierung der Pläne verhindern kann.

Es kommt damit eine weitere schulpolitische Entwicklung ans Ziel, die ihren Ursprung in den technokratischen Schulreformen der Nachkriegszeit einerseits, in den linken Modellen von Gesellschaftsveränderung via Schulpolitik andererseits hat. Bei allen ideologischen Differenzen war beiden Richtungen die Überzeugung von der Realitätsferne der Schule gemeinsam und ein – mehr oder weniger stark betonter – Verdacht, daß der Fachunterricht ungeeignet sei, auf das Leben in modernen Zeiten vorzubereiten. Der Geschichtsunterricht erregte dabei besonderes Mißtrauen, da per se rückwärtsgewandt oder nur bei extremer ideologischer Ladung geeignet, die gewünschte, mithin progressive Ausrichtung der Schüler zu erreichen.

Allerdings führte Anfang der 1970er Jahre ein Vorstoß der hessischen SPD-Regierung, die mit dem gegliederten Schulwesen auch das Fach Geschichte erledigen wollte, zu so massiven Protesten in der Bevölkerung und so scharfer Kritik aus den eigenen Reihen, daß man das Experiment auf halbem Wege abbrach und eine schulpolitische Trümmerlandschaft hinterließ.

Damals formulierten zwei prominente Sozialdemokraten, Hermann Lübbe und Thomas Nipperdey, beide Historiker von Profession, die Haupteinwände gegen die Überführung von Geschichte in „Gesellschaftslehre“: Es gehe hier, so Nipperdey, um nichts anderes als „obrigkeitliche Bevormundung“ und „Indoktrination“, die den Heranwachsenden Kenntnisse und Orientierungsmöglichkeiten vorenthalte und sich nur mühsam hinter Emanzipationsrhetorik verbergen könne; und es folgte eine Einschätzung von prophetischer Hellsichtigkeit: „Wir wissen, daß sich die radikalen Ideologen und Systemveränderer, da der Klassenkampf als Motor versagt, den Institutionen der Sozialisation zugewandt haben, die ihnen (…) beinahe schutzlos offenstehen. Hier breitet sich eine neue und nicht legitimierte Tendenz zur Beherrschung der Gesellschaft aus. Die Erziehungsdiktatur à la Rahmenrichtlinien wird aus einer negativen Utopie zur drohenden Wirklichkeit. Sie gefährdet die Selbstbestimmung der zukünftigen Generationen.“

Angesichts der folgenden, breiten Diskussion über den „Geschichtsverlust“, die „Geschichtslosigkeit“ oder das fehlende „Gechichts-

bild“ konnte man bis Mitte der 1980er Jahre den Eindruck gewinnen, als ob zwar der Status quo ante nicht wiederherstellbar sei, aber doch das Schlimmste verhindert wurde. Mehrere Bundesländer, die das Konzept einer Verschmelzung des Fachs Geschichte mit anderen Fächern übernommen hatten, machten den Schritt wieder rückgängig, bei den Absprachen der Kultusminister zur stärkeren Vereinheitlichung der Prüfungsanforderungen im Abitur gehörte Geschichte undiskutiert zum Kernbereich.

Aber der Eindruck von Stabilisierung täuschte. Das hatte wesentlich mit der fortgesetzt inflationären Vergabe der Hochschulreife und der Flutung der Geisteswissenschaften mit immer weniger geeigneten Studenten zu tun. Da die Absolventen bevorzugt in das Lehramt drängten, wurde der Qualitätsverlust an die Schulen weitergegeben. Ein bürgerliches Selbstverständnis, das Geschichtswissen und Geschichtsbewußtsein als selbstverständliches Bildungsgut betrachtete, gab es zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr, weshalb auch kein Widerstand gegen das Ausgreifen von Managementkonzepten auf die Schulorganisation geleistet wurde, die naturgemäß ohne Verständnis für die Bedeutung von Bildung, also literarischer Bildung, sind.

Das bessere Abschneiden deutscher Schüler bei internationalen Vergleichs-tests in der letzten Zeit ist deshalb nur die eine Seite der Medaille, der fortschreitende Niedergang die andere. Das um sich greifende „teaching to the test“ beschränkt weder die wachsende Zahl der Analphabeten noch fördert es die Fähigkeit zu sinnentnehmendem Lesen wenigstens bei Gymnasiasten oder reduziert die Zahl von bis zu 40 Prozent Studienabbrechern. Der Verfall hat längst das ganze Schul- und Hochschulsystem erfaßt und ist im Grunde nur mit Konrad Liessmanns „Theorie der Unbildung“ zu erklären: Ungebildete haben die Kontrolle über die Bildungspolitik und werden schon aus Eigeninteresse den Bildungsabbau fortsetzen; sie dürfen sich dabei der Unterstützung durch ein breites Bündnis jener sicher sein, die urteilslos sind, Gleichmacherei aus Weltanschauung treiben, Ressentiment zum Maßstab haben oder die Schule als eine Maschinerie betrachten, die Berechtigungsscheine für ihren Nachwuchs ausspuckt.

Die Vorgänge in Berlin sind also nur ein Symptom, nicht mehr, nicht weniger. Im Zweifel verweist man darauf, daß auch andere Bundesländer mit „Welt- und Umweltkunde“ (an den ehemaligen Orientierungsstufen Niedersachsens) oder GSE (für Geschichte, Sozial- und Erdkunde an den bayerischen Mittelschulen, ähnlich in Baden-Württemberg) im „Fächerverbund“ arbeiten. Sicher darf man darauf setzen, daß das frühere Scheitern derartiger Modelle längst vergessen ist, so wie auch die sattsam nachgewiesene Unbrauchbarkeit integrierter Schulformen längst vergessen ist. Die Lücken, die entstehen, werden mit Ideologischem gefüllt, „Demokratieerziehung“, „Geschlechtererziehung“, „Erziehung zu Vielfalt und Toleranz“.

Das alles darf heute auf allgemeine Akzeptanz hoffen, während kaum mehr deutlich zu machen ist, was der Geschichtsunterricht eigentlich leisten sollte: Kenntnis der Geschichte, auch und gerade im Sinn der Aufeinanderfolge der Ereignisse, um nicht nur das eigene Herkommen und das Herkommen der Gemeinschaft zu begreifen, sondern auch um Maßstäbe für die Beurteilung politischer, sozialer, kultureller Vorgänge zu gewinnen. Denn der Mensch begreift sich nur regressiv, durch den geübten Blick auf die Vergangenheit, der enthüllt, was uns ausmacht.

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