© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Oh, wie schön macht’s Kanada?
Einwanderungsgesetz: Alle reden vom kanadischen Punktesystem / Wie sieht das aus? Und ist es wirklich auf Deutschland übertragbar?
Michael Paulwitz

Seit Jahresanfang treibt die SPD, unterstützt von den Grünen, den Koalitionspartner CDU/CSU mit der Forderung nach einem „Einwanderungsgesetz“ vor sich her. Bundestagsfraktionschef Thomas Oppermann ist Anfang März mit dem Vorschlag, Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten mit einem „Punktesystem“ nach kanadischem Vorbild zu steuern, in die Offensive gegangen. In der Union ist das Echo geteilt, aber defensiv, während Linken und Wirtschaftslobby der Vorschlag nicht weit genug geht und die AfD sich in ihrer Forderung nach „klaren Regeln“ für die Einwanderung bestätigt sieht.

Geht es nach Oppermann, bekommen Einwanderungswillige aus Drittstaaten künftig Punkte nach Bedarf, Sprachkenntnissen und Ausbildung. Eine jährlich festgelegte Quote soll bestimmen, wie viele Personen über das Punktesystem kommen können; Arbeitgeber können in eine „Bewerberdatenbank“ Gesuche einstellen. Aufenthaltsgenehmigungen würden zunächst auf drei Jahre befristet, bis der Bewerber nachweisen kann, daß er seinen Lebensunterhalt in Deutschland dauerhaft sichern kann. Als Begründung muß die demographische Entwicklung herhalten: Schon bis 2025 fehlten bis zu 6,7 Millionen Erwerbsfähige.

CDU und CSU sind in der Frage intern zerstritten

Klarer Widerspruch kam prompt von der CSU: Die bestehenden Regelungen seien ausreichend, „wir brauchen kein Einwanderungsgesetz“, bekräftigte Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt frühere Absagen von Parteichef Horst Seehofer und Generalsekretär Andreas Scheuer. Ähnlich hatte sich bereits Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) geäußert. Das kanadische Punktesystem sei zudem bislang eher „planwirtschaftlich“ und weder schnell noch unbürokratisch gewesen. Der Berliner Innensenator Frank Henkel hält Oppermanns Vorstoß für einen „Schnellschuß“, bejaht aber die gesteuerte Einwanderung von Fachkräften aus „demographischen“ Gründen.

Solche Pirouetten, wie sie auch Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer (CDU) dreht, können den Konflikt in der Union allerdings nur mühsam überdecken. SPD-Fraktionschef Oppermann hat mit Rückendeckung des Parteivorsitzenden den unionsinternen Konflikt schließlich gezielt wieder angefacht. Schon im Januar hatte sich CDU-Generalsekretär Peter Tauber, unterstützt von dem Abgeordneten Jens Spahn und der saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), für eine Neuregelung der Einwanderung nach dem kanadischen Punktesystem ausgesprochen. Der CDU-Wirtschaftsrat hat das Modell vor wenigen Wochen ebenfalls vehement befürwortet.

Zwar halten Spahn und Tauber jetzt Oppermann entgegen, das kanadische Modell lasse sich wegen anderer Voraussetzungen nicht „eins zu eins“ auf Deutschland übertragen. Der CDU-Generalsekretär will statt dessen „Willkommenszentren“ in Deutschland und „Einwanderungs-Attachés“ an den deutschen Botschaften einrichten und Einwanderern „Immigrationspaten“ nach kanadischem Vorbild zur Seite stellen.

Es dürfe ja nicht nur um „Arbeitskräfte“ gehen, argumentiert Tauber inzwischen und trifft sich dabei mit den Vorbehalten der baden-württembergischen „Integrationsministerin“ Bilkay Öney (SPD) gegen das Punktesystem. Dieses könne Deutschland zwar attraktiver für Qualifizierte aus Drittstaaten machen, werde aber „nicht den Zuzug von Flüchtlingen beschränken“ und „keinen Einfluß auf die EU-Binnenmigration“ haben.

Die Integration der ohnehin anwesenden Immigranten müsse verbessert werden, und dabei solle man berücksichtigen, daß „zwei Drittel der Deutschen nach Studien keine weitere Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten“ wollten, und „etwa fünfzig Prozent der Deutschen auch einen weiteren Zuzug von Bürgern aus EU-Mitgliedstaaten“ ablehnten.

Bei der Linkspartei wiederum hält man von Zuwanderungssteuerung und „Selektion mit Punktesystem“ überhaupt nichts, wie deren migrationspolitische Sprecherin Sevim Dagdelen betont; Maßstab bei der Aufnahme von Zuzüglern müßten die „Menschenrechte“ sein und nicht die Nützlichkeit einer Person für den Arbeitsmarkt.

Die FDP hatte bereits Mitte Januar versucht, sich mit einem Schnellschuß im Koalitionsstreit zu profilieren. Ein FDP-Papier forderte ein Einwanderungsgesetz mit einem „Punktesystem nach kanadischem Vorbild“ als Kern, damit die Einwanderung sowohl von Akademikern als auch von qualifizierten Facharbeitern „nach Kriterien wie Bildungsgrad, Sprachkenntnis, Alter und Fachkräftebedarf am Arbeitsmarkt flexibel gesteuert werden“ könne.

Populär ist das kanadische Punktesystem auch bei der konkurrierenden Alternative für Deutschland (AfD), die ein „Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild“ bereits kurz nach ihrer Gründung im Frühjahr 2013 in ein erstes Fünf-Punkte-Programmpapier aufgenommen und ein Jahr später in ihrem Europawahlprogramm bekräftigt hatte.

Es gehe um die „klare Trennung von Asyl und Einwanderung“, präzisierten die sächsische AfD-Landtagsfraktion und ihre Vorsitzende Frauke Petry in ihrem Beitrag zu der von der großen Koalition wieder losgetretenen Debatte um ein Einwanderungsgesetz. Die AfD wolle ja nur „Ressentiments schüren“, versuchte die FDP die auffallende Übereinstimmung mit ihrem eigenen Papier wegzuwischen.

Übernimmt die SPD jetzt Forderungen der AfD?

Einwanderung nach Punkten solle nach den Bedürfnissen Deutschlands und „vorzugsweise“ in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse oder in die Selbständigkeit erfolgen, fordert das von Petry präsentierte AfD-Papier; unberechtigte Asylbewerber sollten dagegen zügig abgeschoben werden. Das deckt sich eng mit den zeitgleich vorgetragenen Forderungen der Pegida-Bewegung: Am 12. Januar 2015 nannte Initiator Lutz Bachmann in Dresden als eine von sechs Kernforderungen ein neues Zuwanderungsgesetz, das „unkontrollierte, quantitative“ Zuwanderung beenden und „qualitative Zuwanderung“ nach dem Vorbild Kanadas und der Schweiz fördern solle.

AfD-Vize Hans-Olaf Henkel verkündete nach dem Oppermann-Vorstoß befriedigt, die SPD übernehme jetzt die Einwanderungspolitik der AfD. SPD und Teile der CDU hätten sich als „lernfähig“ erwiesen, nachdem sie die Forderung nach „klaren Regeln“ vor kurzem noch als „populistisch“ verdammt hätten.

Auch in anderen EU-Ländern macht das Modell Karriere: Nigel Farage, Chef der britischen Euroskeptiker-Partei Ukip, hat sich vor den Parlamentswahlen am 7. Mai mit einem Vorstoß zur Zuwanderungsregulierung über ein Punktesystem nach „australischem Vorbild“ positioniert. Dazu soll eine Einwanderungs-Überwachungseinheit die dauerhafte Immigration auf wenige zehntausend Einwanderer jährlich senken. Die EU-Binnenzuwanderung hat Farage freilich gar nicht auf der Rechnung – seine Partei strebt den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union an.

 

Einwanderung nach Deutschland

Deutschland ist weltweit ein Haupt-zielland für Einwanderer und hatte 2013 nach OECD-Angaben mit geschätzt 465.000 nach den USA den größten Zustrom an Einwanderern, die dauerhaft im Zielland leben wollen.

Ausweislich des Migrationsberichts der Bundesregierung sind 2013 insgesamt 1,23 Millionen Menschen nach Deutschland zu- und 800.000 abgewandert. Das ergibt einen Nettosaldo von 430.000, der höchste Wert seit 1993. 76,8 Prozent der Zuwanderer kamen 2013 aus einem anderen europäischen Staat, 61,5 Prozent aus einem EU-Staat im Rahmen der Binnenfreizügigkeit. Hauptherkunftsländer sind Polen, Rumänien und Bulgarien.

Hauptquelle der Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten ist das Asylverfahren. 2013 wurden 127.023 Asylbewerber registriert, 2014 bereits 202.834, für 2015 werden über 300.000 erwartet. Die Zahl der Einreisen über Familiennachzug bewegt sich seit Jahren um den Wert 40.000. Von 44.000 Familiennachzugsvisa im Jahr 2013 wurden 13,8 Prozent an Zuwanderer aus der Türkei erteilt.

Über die „EU Blue Card“ können seit 2012 Hochqualifizierte und Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten einreisen, wenn sie ein Jobangebot mit einem Jahresgehalt von mindestens 48.000 Euro (Akademiker) beziehungsweise 38.000 Euro (Fachkräfte in Mangelberufen) nachweisen können. 2013 kamen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit nur 4.000 Fachkräfte aus Drittstaaten per „Blue Card“ nach Deutschland.

 

So funktioniert das kanadische Modell

Kanada ist nicht nur eines der großen klassischen Einwanderungsländer – 2011 waren 21 Prozent der 33,5 Millionen Einwohner des nordamerikanischen Staates im Ausland geboren –, sondern gilt auch als „Erfinder“ des Punktesystems zur Steuerung von Einwanderung. Rund 230.000 bis 250.000 Einwanderer werden jährlich ins Land gelassen. Rund zwei Drittel davon sind nach wirtschaftlichen Kriterien ausgesuchte Fachkräfte. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich nach einer restriktiven Asylrechtsreform im Jahr 2013 auf 10.300 halbiert. Der Rest sind nachgeholte Familienangehörige. Fast alle Einwanderer werden eingebürgert.

Bis Ende der sechziger Jahre wurden in Kanada vor allem Auswanderer aus den USA und Europa aufgenommen; inzwischen liegen die Herkunftsländer überwiegend im asiatischen Raum. Das 1967 eingeführte „Punktesystem“ zur Auswahl von qualifizierten Einwanderern wurde mehrfach an veränderte Gegebenheiten angepaßt.

Die letzte Änderung des Punktesystems ist zum Jahresbeginn in Kraft getreten. Auf der Netzseite der Einwanderungsbehörde können Bewerber online herausfinden, ob sie eine Chance für das beschleunigte „Express Entry“-Verfahren für Hochqualifizierte („Federal Skilled Worker Program“) oder Facharbeiter („Federal Skilled Trades Program“) haben.

Daneben gibt es Programme für Bewerber mit qualifizierter Berufserfahrung in Kanada („Canadian Experience Class“), für die ebenfalls nur ein beschränktes Kontingent zur Verfügung steht, für Gewerbetreibende, Selbständige, Unternehmensgründer, Investoren, Farmer, Athleten, Künstler und Pflegepersonal; selbst Asylbewerber und Flüchtlinge können sich online um Aufnahme bewerben.

Ablehnung auch, wenn alle Kriterien erfüllt werden

Hochqualifizierte Bewerber müssen 67 von 100 Punkten in verschiedenen Bereichen erreichen, um zur Einwanderung zugelassen zu werden. Gute Englisch- oder Französischkenntnisse auf dem Niveau des „Canadian Benchmark Level 7“ müssen in einem von der Einwanderungsbehörde zugelassenen kanadischen Test über Sprechen, Hörverstehen, Lesen und Schreiben nachgewiesen werden; Schulzeugnisse oder Nachweise aus dem Herkunftsland reichen nicht.

Kanada verlangt gutausgebildete Manager, Akademiker oder Facharbeiter mit mindestens einjähriger Vollzeit-Berufserfahrung, für einige Berufsfelder auch zwei oder vier Jahre – Praktika und Teilzeitjobs zählen nicht; Hilfs- und Saisonarbeiter haben keine Chance. Berufs- und Hochschulabschlüsse müssen entweder in Kanada abgelegt oder kanadischem Niveau entsprechen; die Gleichwertigkeit ist durch eine von der Einwanderungsbehörde zugelassene Stelle nachzuweisen.

Punkte können Bewerber mit sechs „Selektionsfaktoren“ sammeln: Sprachkenntnisse (maximal 28 Punkte), Ausbildungsstand (25 Punkte), Berufserfahrung (15 Punkte), Alter (12 Punkte), Angebot einer realen Arbeitsstelle (10 Punkte) und „Integrationsfähigkeit“ (10 Punkte), also „wie gut Sie sich voraussichtlich einfügen werden“. Wer kein sofort anzutretendes Stellenangebot hat, muß nachweisen, daß er genug Geld hat, um sich und seine Familie nach der Ankunft in Kanada zunächst selbst zu versorgen.

Selbst bei Erfüllung der Kriterien kann ein Bewerber abgelehnt werden, wenn für ihn oder einen seiner Angehörigen ein Hinderungsgrund vorliegt: etwa wenn eine der antragstellenden Personen ein „Sicherheitsrisiko“ darstellt, ein Kriegsverbrechen oder eine Straftat innerhalb oder außerhalb Kanadas begangen oder Beziehungen zur Organisierten Kriminalität hat.

Schwere Krankheiten und voraussichtliche Arbeitsunfähigkeit sind ebenso ein Problem wie schwerwiegende finanzielle Probleme, beispielsweise Flucht vor Steuer- oder sonstigen Schulden. Wer in einem Antragsformular oder einer Befragung falsche Angaben gemacht hat, kann ebenso abgewiesen werden wie jemand, der anderen Bestimmungen des kanadischen Einwanderungsrechts nicht entspricht.

Eine Sonderbestimmung gilt für das frankophone Quebec; englischsprachige Immigranten dürfen sich dort generell nicht niederlassen. Die Provinz hat ein eigenes Auswahlverfahren, das besonderen Wert auf französische Sprachkenntnisse legt. Das hat dazu geführt, daß sich in der Provinz neben zahlreichen Immigranten aus Haiti in großer Zahl junge Muslime aus dem Maghreb niederlassen konnten, was seit einigen Jahren zunehmend zu Integrationsproblemen und Konflikten führt.

Mit dem neuen System reagiert Kanada auf die Erfahrung, daß zwar mehr als die Hälfte der Einwanderer einen Hochschulabschluß haben, viele Akademiker aber trotzdem unterqualifiziert arbeiten und ihre Arbeitslosenquote signifikant über dem Durchschnitt liegt und sich kaum von der von Immigranten mit schlechteren Abschlüssen unterscheidet.

Ziel der Reform ist, das System näher am Arbeitsmarkt zu orientieren: Sprachkenntnisse und anerkannte Abschlüsse haben größeres Gewicht als bisher, Stellenangebote spielen eine größere Rolle. Auf der Netzseite des Einwanderungsministeriums können potentielle Einwanderer ein Profil hinterlegen, über das kanadische Arbeitgeber ihnen ein konkretes Arbeitsangebot machen können. Die Kontingente für einzelne Berufsgruppen wurden abgeschafft, die Gesamtzahl der Einwanderer soll aber bei 250.000 gedeckelt bleiben.

In der deutschen Debatte wurde die kanadische Reform des Punktesystems von einigen Stimmen wie dem CDU-Geschäftsführer Michael Grosse-Brömmer als „Orientierung“ am „deutschen Modell“ gedeutet. Allerdings spielt in Deutschland die Auswahl Qualifizierter nach Stellenangeboten zahlenmäßig nur eine geringe Rolle, während sie in Kanada das Gros der Einwanderung ausmacht.

Zudem ist das Land weder hinsichtlich der Aufnahme von Asylbewerbern noch in Sachen Arbeitnehmerfreizügigkeit in multilaterale Zusammenhänge eingebunden und hat außer der langen Landgrenze zu den USA nur Seegrenzen, die es in eigener Souveränität kontrolliert.

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