© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Pankraz,
Sissela Bok und der Zwang zum Lügen

Lügen haben kurze Beine, sagt der Volksmund. Das mag so sein, aber sie laufen damit trotzdem überall hin und herum. Und es wird immer schlimmer. Ob in der Kaufhalle oder in der Apotheke, ob vor dem Fernseher oder bei der Zeitungslektüre: Lügen, nichts als Lügen, Lügenpresse, verlogene Aufschriften in den Warenregalen und in medizinischen Prospekten, von der Sprache der Politik ganz zu schweigen. „Wir werden ja nur noch belogen“ – dieser Seufzer ist geradezu zum Markenzeichen unseres Alltags geworden.

Kann man etwas dagegen tun? Oder gibt es wenigstens einen Trost, ein Sicherheitsgeländer angesichts all der Lügensümpfe, die uns umgeben? Pankraz empfiehlt als ersten Haltegriff die Lektüre des einschlägigen Klassikers über die Theorie der Lüge: „Lügen. Vom täglichen Zwang zur Unaufrichtigkeit“ von Sissela Bok, der schwedischen Moralphilosophin und Tocher Gunnar Myrdals, seinerzeit auf deutsch erschienen im Rowohlt-Verlag, Reinbek. Man wird in dem Buch vielleicht nicht getröstet, aber immerhin solide belehrt.

Die Lüge, erfährt man, ist an sich – im Gegensatz zum Mord und zum Diebstahl – vorab keine Sünde, sondern eher eine moralische Verlegenheit. Völlig ohne Lüge könne man nämlich gar kein richtiges, „normales“ Leben führen, sie gehöre dazu wie die Luft zum Atmen oder das Wasser zum Trinken. Ob ein Lügner ins Zwielicht rücke, hänge stets von der konkreten Situation ab, in der seine Lüge geschehe, und vor allem von der Dimension. Schlimme Lügen seien grundsätzlich „große“ Lügen, deren pure Quantität ab einem gewissen Punkt automatisch in Verbrechen und Bosheit umschlage.

Es wird heute, wie Sissela Bok zeigt, viel, viel mehr gelogen als früher, „einmal weil die Menschen kaum noch Angst vor göttlicher Strafe haben, zum anderen weil zahllose gesellschaftliche Mechanismen geradezu zur Lüge einladen, beziehungsweise zur Lüge zwingen. Ganze Industrien sind auf der Lüge aufgebaut, die Kosmetik beispielsweise mit ihren wirkungslosen Schönheitswässerchen, die Pharmazie mit ihren Placebopillen, die Werbung mit ihren ausgetüftelten Strategien der Übertreibung, der Halbwahrheiten und des Verschweigens.“

Weil die Politik dank der medialen Explosion weitgehend öffentlich geworden ist und so die Politiker ständig unter Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck setzt, blüht die Lüge auch hier wie nie zuvor. Der Bürger wird heute tagtäglich überschüttet mit verlogenen Politikeräußerungen, nichtssagenden Kommuniqués und falschen Einigkeitsschwüren. Und nicht nur in den offen totalitären Staaten muß unentwegt einer bestimmten Ideologie geopfert werden, die offiziell als Nonplusultra bestätigt werden möchte.

Schon die Erstkläßler lernen, daß man sich höchstens zu Hause bei Vater und Mutter die Wahrheit leisten darf, daß man dagegen in der Schule und im Berufsleben kräftig lügen muß, um überhaupt eine halbwegs annehmbare Lebenschance zu erhalten. Frau Bok hat vollkommen recht, wenn sie sagt, daß das moderne Übermaß an täglichen, übrigens auch technisch-digitalen Zwängen zur Unaufrichtigkeit des menschlichen Zusammenlebens führt und uns peu à peu allesamt in zynische Halunken verwandelt.

Andererseits gilt natürlich auch: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, indem man gegen die Lüge ein absolutes Wahrheitsgebot aufrichtet, das niemals eingehalten werden kann. Keine der großen Religionen (mit Ausnahme vielleicht der Lehren des Zarathustra) fordert denn auch dergleichen. Man weiß eben, wie kompliziert es in der Wirklichkeit zugeht.

Soll man einem Sterbenden in jedem Fall die Wahrheit über seinen Zustand sagen? Darf man den Häscher einer Diktatur, der nach dem Verbleib eines Opfers fragt, bewußt in die lrre führen? Darf ein Stratege den totalitären Feind über seine wahren militärischen Absichten in täuschender Unklarheit lassen? Jede dieser Fragen fordert eine spezielle Antwort, die sich nie und nimmer über den Leisten einer einheitlichen Moraltheologie schlagen läßt.

Schon der fromme Pascal wußte, daß niemand in unserer Gegenwart so über uns spricht, wie er in unserer Abwesenheit spräche. Nur ganz wenige Freundschaften hätten Bestand, wenn jeder wüßte, was sein Freund über ihn sagt, wenn er nicht dabei ist. „Der Mensch ist also von seinem Wesen her Verstellung“, sagt Pascal, „sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. Er will nicht, daß man ihm die Wahrheit sage, und er vermeidet es, sie anderen zu sagen. Und sowohl das eine wie das andere hat eine natürliche Wurzel in seinem Herzen.“

Nein, der Mensch ist nicht für die Wahrheit gebaut, wenigstens nicht für „die ganze Wahrheit“, soviel scheint festzustehen. Irgend etwas muß er sich und den anderen immer vormachen, sonst hält er das Leben gar nicht aus. Und dennoch bleibt die Verlogenheit ein unreiner Affekt, dennoch versetzt es allen Eltern einen Schock, wenn sie zum erstenmal merken, daß ihr Kind sie anlügt. Und ihr Kummer ist berechtigt. Doch auch Sisse la Bok hat wohl recht: Die Lüge wird um so schändlicher, je mehr sie sich quantitativ und öffentlich ausbreitet.

Es gibt ein Maß an öffentlicher Verlogenheit, das ein gut und zur Zufriedenheit aller funktionierender Organismus noch durchaus verdauen kann und an das er sich sogar gewöhnt, das er braucht. Erst wenn dieses Maß überschritten wird (was heute in der modernen, digital tief beeinflußten Massengesellschaft zu passieren scheint), zeigt sich die wahre Fratze der Lüge, und die ist freilich so schauerlich, daß auch ein tiefer Schatten auf unsere täglichen, „notwendigen“ kleinen Lügen fällt.

Wie artikuliert Goethe es im „Faust“, als vom Vorgebirge aus ein politischer Umzug beobachtet wird? „Und auf vorgeschriebnen Bahnen / Zieht die Menge durch die Flur; / Den entrollten Lügenfahnen / Folgen alle! – Schafsnatur!“Ein altes polnisches Sprichwort aber geht so: Mit der Lüge kommt man durch die ganze Welt. Aber man findet nicht mehr nach Hause zurück.

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