© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Vom SED-Staat hatte er sich entfernt
Faszinierende Lektüre: Der zweite Tagebuch-Band des Schriftstellers Erwin Strittmatter
Thorsten Hinz

Der zweite Tagebuch-Band des Schriftstellers Erwin Strittmatter (1912–1994) enthält Eintragungen (der Autor nennt sie „Einschreibungen“) aus den Jahren 1974 bis 1994, seinem Todesjahr. Längst war Strittmatter eine unangefochtene Berühmtheit in der DDR: ein Volksschriftsteller, der die Perspektive der sogenannten kleinen Leute in einen hohen literarischen Anspruch überführte.

Seit 1954 lebte er mit seiner Frau, der Lyrikerin Eva Strittmatter, in dem Dorf Schulzenhof nördlich von Berlin, wo er nebenbei einen Bauernhof bewirtschaftete. Die ländliche Welt bildete einen eigenen Kosmos, der ihn schützend umgab. Öffentliche Stellungnahmen und Ämter vermied er zunehmend. Er hätte Akademie- oder Verbandspräsident, Mitglied der Volkskammer und des SED-Zentralkomitees werden können. Stattdessen zog er sich 1978 auch aus dem Präsidium des Schriftstellerverbandes zurück.

Ohne Illusionen über den Zustand des SED-Staates

Die Tagebücher erzählen die Geschichte eines alternden Mannes und schließlich Greises, der die fortschreitende Einschränkung seiner Körperfunktionen registriert. Sie enthalten biographische und künstlerische Reflexionen, geben Einblicke in das spannungsreiche Innenleben einer großen Familie sowie in Strittmatters Auseinandersetzung mit dem politischen Geschehen.

Selbst gute Kenner seines Werkes werden staunen, wie weit er, der seit 1947 der SED angehörte, sich in den siebziger Jahren vom Staat entfernt hatte. Er ist ohne Illusionen über den Zustand seiner Welt. Die Sitzungen, Wahlverfahren und Akklamationen empfindet er als „Tortur“, er spielt bloß noch „(s)eine Rolle“ und weiß um die stalinistische Gesinnung der „Öberen“. Er hat einen sicheren Blick dafür, welche Kollegen für die Staatssicherheit tätig sind. Zwei seiner Söhne sind bei der Armee Schikanen ausgesetzt. Er registriert, daß die DDR unreformierbar und wohl verloren ist.

Seine Einsichten, schreibt er nach dem Wiederlesen alter Aufzeichnungen, habe er schon seit Jahrzehnten gehabt, aber verdrängt, weil er nach dem Krieg unbedingt an die Vision einer humanen, sozialistischen Gesellschaft glauben wollte. Er zeigt sich froh und erleichtert über den Besuch Erich Loests, der von 1956 bis 1964 im Zuchthaus gesessen hatte – aus politischen Gründen. Ihm, Strittmatter, sei das damals nicht klar gewesen. „Ich war sektiererisch und vernagelt und fürchtete Repressalien.“ An seiner Freundschaft mit dem russischen Dissidenten Lew Kopelew hält er auch fest, als die Sowjetunion ihn 1981 in die Bundesrepublik ausbürgert.

Selber will er weder ein Dissident sein noch in den Westen gehen. Er strebt in seiner Literatur nach dem „Absoluten“, und dazu muß er sich freihalten von allen Vereinnahmungen, egal von welcher Seite. In dem Zusammenhang erlaubt er sich eine kleine Spitze gegen den weiß- und rauschebärtigen Kopelew: Der sei eben kein wirklicher Weiser, sondern brauche die unmittelbare Resonanz des Publikums. Er übt sich in einem lebensklugen Pragmatismus, den er auch den Söhnen mit auf den Weg gibt. Als einer an seiner dogmatischen Prüfungsarbeit im Fach Marxismus-Leninismus zweifelt, rät er „ihm für die dogmatische Arbeit, damit er sein Schauspieler-Diplom erhält. Bei uns wird im Berufsleben am bereitwilligsten für diplomierte Dummheit bezahlt. Über undogmatischen Marxismus kann E. Nachdenken, wenn er sein Diplom hat.“

Strittmatters Freiräume waren nicht grenzenlos

Pragmatismus bedeutet unter den Umständen, ein kompliziertes Gleichgewicht jeden Tag neu herstellen zu müssen. Natürlich ist Strittmatter für die Staatsführung kein Normalsterblicher. Für den Notfall verfügt er über einen kurzen Draht zu Kurt Hager, dem Ideologie-Chef der SED. Den Politbürokraten ist Strittmatters Loyalität wichtig, auch wenn sie – wie im Fall der Ausbürgerung Wolf Biermanns, die Strittmatter mißbilligt – sich nur in einem Schweigen äußert, das einer Distanzierung gleichkommt. Doch seine Freiräume sind nicht grenzenlos. Das erlebt er anläßlich des letzten Bandes der „Wundertäter“-Trilogie, der nach langem Gezerre 1980 endlich erscheinen kann. Darin ist von den Vergewaltigungen durch Rotarmisten am Ende des Zweiten Weltkriegs die Rede. Das Problem wird auf allerhöchster Ebene, im SED-Politbüro besprochen, wo man die Intervention des sowjetischen Botschafters befürchtet. Andererseits wäre ein ungedrucktes Strittmatter-Manuskript für den inneren Frieden gefährlicher als ein gedrucktes, zumal die Westmedien bereits darüber berichten. Man drängt Strittmatter, als „agitatorische Absicherung“ eine Passage einzufügen, in der „sogleich von der Schuld der Deutschen geredet wird“. Er findet schließlich eine Lösung, die am wenigsten plakativ wirkt.

Das Ende der DDR beschäftigt ihn, ohne ihn zu überraschen. Den Versuch Gregor Gysis, ihn als politische Galionsfigur zu gewinnen, weist er zurück. Wichtiger als die Politik sind ihm das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit oder die Ankunft einer neuen Enkelin.

Strittmatters Naturbeschreibungen gehören zum Schönsten und Intensivsten, was es in diesem Genre gibt. Die Natur war für ihn nicht nur Gegenstand der Ertüchtigung und ästhetischen Erbauung, sondern Ausdruck eines höheren Gesetzes, das die Bedeutung menschlichen Handelns schrumpfen ließ. Daraus ergab sich eine neue Nähe zu Knut Hamsun, dessen Bücher ihn seit jeher begleiteten. Zwei neuere Hamsun-Biographien rührten ihn zu Tränen. Der „politische Prozeß“, der nach 1945 gegen den norwegischen Nobelpreisträger geführt wurde, erinnerte ihn an die „Machenschaften der Kirchenleute“ in der Gegenwart, was wohl als Anspielung auf den damaligen Chef der Stasi-Akten-Behörde, Joachim Gauck, zu verstehen ist.

Parallelen zur „kosmischen“ Denkweise Ernst Jüngers

Ein Jahr vor seinem Tod entdeckte Strittmatter auch Ernst Jünger wieder. Die Erzählung „Auf den Marmorklippen“ hatte er bereits vor dem Krieg gelesen. Nun nötigen ihm Auszüge aus dem Tagebuch, die in der Zeitschrift Sinn und Form abgedruckt sind, „Bewunderung“ ab. Er entdeckt Parallelen zur „kosmischen“ Denkweise Jüngers. Während der Körper immer schwächer wird, streift der Geist die letzten Fesseln ab. „Welt, ich bleibe nicht mehr hier, / Hab ich doch kein Teil an dir, / Das der Seele könnte taugen“, heißt es in der Bach-Kantate „Ich habe genug“. Am Ende ist der Dichter frei.

Diesen Prozeß kann der Leser in seltener Anschaulichkeit mitverfolgen. Eine faszinierende Lektüre!

Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994. Aufbau-Verlag, Berlin 2014, gebunden, 622 Seiten, 24,95 Euro

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