© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Eine Religion wie jede andere
Bundesverfassungsgericht: Mit seiner Entscheidung zum Kopftuchverbot kippt Karlsruhe auch die Privilegierung des Christentums
Gerhard Vierfuss

Ein allgemeines gesetzliches Verbot für muslimische Lehrerinnen, an öffentlichen Schulen während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Das ist die Kernaussage des Beschlusses (1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10), den das Bundesverfassungsgericht am Freitag vergangener Woche verkündet hat und der seitdem innenpolitisch für Aufsehen sorgt. Regelungen in den Schulgesetzen der Bundesländer, die ein derartiges Verbot aussprechen, sind damit hinfällig oder entsprechend den Vorgaben des Gerichts restriktiv auszulegen. Geklagt hatten eine muslimische Lehrerin und eine muslimische Sonderpädagogin, die an Schulen in Nordrhein-Westfalen als Angestellte tätig waren. Beide hatten zuvor vergeblich gegen ihre Abmahnung beziehungsweise gegen ihre Entlassung bis vor dem Bundesarbeitsgericht geklagt.

Keine Rechtfertigung für weitreichenden Eingriff

Zur Begründung führt das Karlsruher Gericht aus, ein allgemeines Kopftuchverbot stelle einen unverhältnismäßig schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit derjenigen Musliminnen dar, die das Tragen eines Kopftuchs für sich als eine religiöse Verpflichtung ansähen. Zwar gebe es in dieser Frage unterschiedliche Lehrmeinungen innerhalb des Islams; es genüge jedoch, daß die Annahme eines weiblichen Bedeckungsgebots von verschiedenen islamischen Richtungen vertreten werde und sich auf zwei Textstellen im Koran berufen könne. Dem Staat stehe es nicht zu, in diesen Glaubensstreit einzugreifen und darüber zu befinden, welche Überzeugung richtig sei und welche falsch, führten die Richter aus.

Dem Grundrecht der muslimischen Lehrerinnen ständen zwar das Grundrecht der Schüler auf negative Bekenntnisfreiheit und das Erziehungsgrundrecht der Eltern gegenüber. Jedoch würden diese allein dadurch, daß eine Lehrerin ein Kopftuch als religiöse Bekleidung trage, noch nicht beeinträchtigt: Darin spiegele sich lediglich die religiös pluralistische Gesellschaft wider. Auch die staatliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität rechtfertige nicht den weitreichenden Eingriff in die Glaubensfreiheit der Musliminnen. Denn der Staat identifiziere sich ja nicht mit der Glaubensaussage, die in dem Tragen eines Kopftuches liege. Insofern liege dieser Fall anders als der des vom Staat direkt zu verantwortenden Anbringens von Kruzifixen in öffentlichen Gebäuden.

Ein Verbot des muslimischen Kopftuchs sei daher nur dann verfassungskonform, wenn es als Reaktion auf eine konkrete, also im Einzelfall absehbare Gefahr oder auf eine bereits eingetretene Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität erfolge. Darüber hinaus sei ein allgemeineres Verbot dann zulässig, „wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität“ erreicht sei. In diesen Fällen sei es muslimischen Lehrerinnen zumutbar, ohne Kopftuch zu unterrichten, auch wenn sie damit eine von ihnen als solche empfundene religiöse Pflicht hintanstellen müßten.

Neben der Kopftuchfrage ging es in dem Verfahren auch um die Gleichbehandlung der Religionen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte eine Bestimmung des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes für nichtig, die als eine Privilegierung der christlichen und der jüdischen Religion verstanden werden konnte und vom Gericht so verstanden wurde. Das Bundesarbeitsgericht hatte noch versucht, durch einschränkende Auslegung eine gewisse Sonderstellung der in der abendländischen Tradition verankerten religiösen Darstellungen zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht stellt nunmehr fest: Verbote religiöser Bekundungen an öffentlichen Schulen müssen stets unterschiedslos für alle Religionen gelten.

Der Beschluß erging mit sechs gegen zwei Stimmen. In ihrem Minderheitsvotum weisen die überstimmten Richter darauf hin, daß die Entscheidung eine Abweichung von den Maßgaben des Kopftuchurteils von 2003 darstelle; diese hätten „im Interesse einer berechenbaren Verfassungsrechtsprechung“ Anwendung finden müssen. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht ein ohne gesetzliche Grundlage ausgesprochenes Kopftuchverbot für verfassungswidrig erklärt und in seiner Begründung ausführlich dargetan, daß der Gesetzgeber bei der Ausformung einer gesetzlichen Regelung einen weiten Einschätzungsspielraum habe. Dieser umfasse auch die Möglichkeit, „durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden“. Aufgrund dieses Urteils war die jetzt erfolgreich angefochtene gesetzliche Regelung ergangen.

Das damalige Urteil wurde vom Zweiten Senat gefällt, der jetzige Beschluß vom Ersten Senat. Nach Paragraph 16 Absatz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht hat ein Senat, der in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will, die Sache dem Plenum des Gerichts vorzulegen. Diese Vorschrift hat der Erste Senat nicht angewandt.

Meinungsbeitrag Seite 2

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