© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

„Die wollen euch hinrichten!“
Bürgerkriegsflüchtlinge: Weil Verwandte für ihren Lebensunterhalt aufkommen, durften syrische Christen nach Deutschland kommen
Hinrich Rohbohm

Es ist eng in der Wiesbadener Einzimmerwohnung von Scharbel Shamoun. Gerade einmal 15 Quadratmeter ist sie groß. Der 23jährige Assyrer steht an der Spüle und kocht Tee. Seit November vorigen Jahres teilt er sich sein Heim mit seinen Eltern und fünf Geschwistern.

Sie alle sind aus Syrien geflohen. Scharbel bereits vor zwei Jahren, seine Familie ist erst vor wenigen Monaten in Deutschland angekommen. Die älteste Tochter ist noch immer in Syrien, versucht gemeinsam mit ihrem Mann verzweifelt, das Land zu verlassen. Der Vater, Shamoun Shamoun, ein 49 Jahre alter Landwirt und Elektromeister, sitzt auf einer Matratze, die im Zimmer auf dem Boden liegt.

In Syrien führten sie ein Leben zwischen den Fronten

Die Mutter hockt neben dem Fernseher, den ihnen der in Deutschland lebende Neffe besorgt hat und auf dessen Bildschirm sie gebannt die Nachrichten von Al Jazeera über die Entwicklungen im Nahen Osten verfolgt. An einer Dachschräge steht ein kleines Bett, auf dem es sich Scharbels Geschwister so gut es geht gemütlich machen. Ein Kleiderschrank und eine Waschmaschine füllen das Zimmer. Hinter einer klemmenden Tür verbirgt sich ein Bad, das die Größe einer Besenkammer aufweist.

Dennoch beklagt sich die Familie Shamoun nicht. „Sie alle sind froh, daß sie jetzt in Sicherheit sind“, dolmetscht Neffe Karim Chamoun, der seit 27 Jahren in Deutschland lebt. Für die Familie ist er ein Glücksfall. Ohne ihn hätte sie nicht nach Deutschland fliehen können.

Ein Unterfangen, mit dem sie sich lange schwergetan hat. Die Shamouns wollten eigentlich um jeden Preis in ihrer Heimat bleiben, wollten nicht, daß nun auch die letzten Christen aus Syrien vertrieben werden. Und sie wollen nicht mit offensichtlich unberechtigten Asylbewerbern in Verbindung gebracht werden, die eine Verfolgung vortäuschen, um an Sozialleistungen zu gelangen.

Lange hatten sie in Syrien ausgeharrt, zuletzt aber keine Wahl mehr gehabt. Kämpfer der salafistischen Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hatten ihr Dorf besetzt, drohten damit, die Familie zu köpfen, sollte sie den Ort nicht verlassen. Das Dorf der Shamouns befindet sich in der Nähe der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens, unmittelbar an der Grenze zur Türkei. Vater Shamoun Shamoun hat dort einen landwirtschaftlichen Betrieb, baut Gemüse, Getreide und Baumwolle an. In Qamischli ist der 49jährige außerdem bei der Stadt als Elektromeister angestellt.

Dann kommt der Krieg. Als der IS das Dorf heimsucht, ändert sich das Leben der Shamouns schlagartig. „Wir wurden vor die Wahl gestellt: Entweder beim IS mitmachen oder uns würde die Ernte weggenommen und wir müßten unser Dorf verlassen“, erzählt der Vater. Sich dem IS zu verweigern und doch zu bleiben, hätte den Tod bedeutet. Während die Familie ihrem Glauben nicht abschwören will, hätten sich nicht wenige Dorfbewohner der Terrorgruppe angeschlossen. „Aus Furcht“, wie der Vater sagt.

Die Familie flieht ins 15 Kilometer entfernte Qamischli. Die Stadt wird von Assad-Anhängern kontrolliert. Manchmal, wenn die IS-Kämpfer abgezogen sind, schleichen sie sich heimlich in ihr Dorf zurück, versuchen ihre Felder weiter zu bestellen. Es ist ein Leben zwischen den Fronten, das sie führen. Einmal eroberten Truppen Assads das Dorf zurück. Auf der Suche nach IS-Kämpfern hatten sie das Haus der Shamouns zerstört. Der IS wiederum hat auf dem 80 Meter hohen Dorfhügel einen Flugabwehrstand errichtet und war dabei auf die Ruinen eines alten Klosters aus dem 6. Jahrhundert gestoßen. „Sie haben historisch wertvolle Artefakte wie alte Krüge und Weihrauchbehälter zerstört“, sagt Karim Chamoun.

„Wir hatten die Hoffnung, daß der IS vielleicht nicht mehr zurückkommen würde“, erzählt sein Onkel. Doch der IS kommt zurück. Als sie die bestellten Felder sehen, sind sie außer sich, ordnen an, die Familie zu töten. Ein Dorfbewohner überbringt die Nachricht. „Ihr müßt fliehen, der IS fragt nach euch, die wollen euch hinrichten.“ Das war im Mai vergangenen Jahres.

Verzweifelt versucht die Familie, als Kontingentflüchtlinge in Deutschland aufgenommen zu werden. Doch längst nicht jeder wird ausgewählt. Auch die Shamouns haben kein Glück. Erst durch eine Verpflichtungserklärung ihres in Deutschland lebenden Cousins, selbst für den kompletten Lebensunterhalt der Familie aufzukommen, erhalten sie eine Einladung der deutschen Botschaft. „Aber damit waren sie noch lange nicht aus dem Land“, erklärt Karim Chamoun. Die Grenzen zur nahen Türkei sind verschlossen, werden streng bewacht. Und für Schleuser, die einen hinüberbringen, fehlt das Geld. Das hatte der Vater bereits zwei Jahre zuvor aufbringen müssen, um seinen ältesten Sohn Scharbel zu retten.

Das Assad-Regime hatte ihn damals zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet. „Hätte er sich geweigert, hätten sie ihn gleich erschossen“, verdeutlicht Karim Chamoun die ausweglose Situation seines Cousins. „Assad läßt die Christen und Sunniten an vorderster Front kämpfen. Sie sind die ersten, die bei Gefechten sterben.“ Die Alawiten, zu denen auch Assad gehört, würden dagegen zumeist Offiziersränge bekleiden und sich im Hintergrund halten.

Scharbel hat noch heute mit den schrecklichen Bildern in seinem Kopf zu kämpfen. Bilder des Krieges, des Leids und der Gewalt, die ihn unter Schlaflosigkeit und Alpträumen leiden lassen. „Wenn wir miteinander telefonieren konnten, hat er geheult wie ein Kind, so verzweifelt war er“, erinnert sich sein Cousin. Schließlich begeht er Fahnenflucht, will sich zu seiner Familie nach Qamischli durchschlagen. „Das war mit hohen Gefahren verbunden.“ Einerseits hätten ihn Assads Soldaten erschießen können. Auf Flucht aus der Armee steht die Todesstrafe. „Andererseits mußte er auf seinem Weg nach Hause auch von islamistischen Rebellen kontrollierte Gebiete durchqueren. Die Gefahr, daß ihm dort potentielle Entführer auflauern, war sehr hoch.“

Scharbel schafft es trotzdem nach Ra’s al-‘Ain, einer Kleinstadt nahe der türkischen Grenze, nicht weit von seinem Heimatort entfernt. Aber allen ist klar: Er muß weg, außer Landes. Schnell. Die Familie nimmt Kontakt zu Schleusern auf. Ihr Preis ist hoch, 10.000 Euro. Der Vater muß sein Haus in der Stadt verkaufen, fast sein ganzes Vermögen aufbringen.

Auch die Kurden wollen das Land der Christen haben

Wer aber kauft ein Haus in einer umkämpften Region? „Er konnte es nur an die Kurden veräußern“, schildert Karim Chamoun. Ein Umstand, der dem Familienvater nicht leichtfällt. Denn die Kurden würden ihrerseits versuchen, den einst christlichen Grund und Boden zu erwerben, um die Gegend unter kurdische Kontrolle zu bekommen. Es ist eine Form der Landnahme.

Die Schleuser weisen Scharbel an, sich gemeinsam mit einer Gruppe weiterer Flüchtlinge zu einem vereinbarten Treffpunkt irgendwo auf einsamen Feldern im Grenzgebiet zu begeben. Bei strömendem Regen bahnt er sich seinen Weg über derart matschiges Gelände, daß seine Schuhe in dem Morast steckenbleiben. Barfuß läuft er mehrere Kilometer weiter, bis ihn ein Bus der Schleuser aufnimmt und nach Istanbul bringt. Schließlich gelangt er über Wien zu seinem Cousin nach Wiesbaden, stellt einen Asylantrag.

Die restliche Familie sitzt da noch immer in Syrien, darauf hoffend, daß sich die Lage bessert und der IS abzieht. Um alle durch Schleuser außer Landes zu bringen, fehlt es nun an Geld. Die Verpflichtungserklärung des Cousins ist die einzige Chance, herauszukommen. Weg von den Todeskommandos des IS, weg von den Raketeneinschlägen und Bombenattentaten, die die Stadt immer wieder erschüttern.

Sehr viele Bekannte hätten ihn angerufen, ihn voller Verzweiflung gebeten, für sie das gleiche zu tun. Doch seine Einkommensverhältnisse erlauben es ihm nur, für maximal vier Leute eine Erklärung abzugeben. Zwei weitere haben seine Eltern übernommen. „Trotzdem war die Flucht ein Drama“, erklärt der Cousin der Familie. Denn eine Flucht über die syrisch-türkische Grenze war ohne Schleuser praktisch unmöglich. Und Richtung Süden war die Gefahr einer Entführung zu groß. „Die einzige Chance war der Flughafen“, erzählt Karim Chamoun. Ein bis zwei Maschinen pro Tag würden von Qamischli aus nach Damaskus fliegen. „Normalerweise kostet ein Flug 5.000 syrische Lira“, erklärt der Vater.

Doch durch den Krieg und den damit verbundenen Flüchtlingsstrom hat sich der Preis versiebenfacht. „35.000 Lira pro Person mußte mein Onkel zahlen. Das ist ungefähr so viel wie das durchschnittliche Monatseinkommen eines syrischen Beamten“, verdeutlicht der Neffe. Wer über Geld und die nötigen Beziehungen verfüge, schaffe es, sich mit Militärmaschinen ausfliegen zu lassen.

Drei Wochen muß die Familie warten, ehe sie die rettenden Tickets erhält. Am 17. November vorigen Jahres ist es soweit. Die Shamouns können ausreisen, gelangen über Damaskus mit einem Minibus nach Beirut in den Libanon. Aufgrund der Verpflichtungserklärung ihres in Deutschland lebenden Verwandten hatte ihr die deutsche Botschaft eine Einladung ausgestellt. „Ohne dieses Schriftstück wäre die Einreise in den Libanon nicht möglich gewesen“, macht der Vater klar. In Beirut lebt die Schwester seiner Frau, sagt Shamoun Shamoun. Hätten sie nicht bei ihr Unterschlupf finden können? „Wir durften uns im Libanon nur für die Durchreise aufhalten“, nennt der Vater den Grund dafür, warum die Familie in dem Nachbarland nicht einfach bleiben konnte.

Seit dem 4. Dezember sind sie in Deutschland und leben in ihrer kleinen Wohnung auf engstem Raum im Zentrum von Wiesbaden. Sie haben nun einen Asylantrag gestellt. Künftig werden sie in einem Flüchtlingsaufnahmelager in München untergebracht sein.

Doch am liebsten hätten sie ihre Heimat nie verlassen. Sie wissen: Die Flucht der assyrischen Christen bedeutet auch das Ende des Christentums in Syrien. Der anfängliche Optimismus unter ihnen, daß das Assad-Regime gestürzt und ein freies, demokratisches Syrien entstehen würde, ist in Pessimismus umgeschlagen, die Hoffnung auf Rückkehr schwindet.

Viele assyrische Christen denken inzwischen so. Es ist der Grund für die große Flüchtlingswelle, die nun eingesetzt hat. „Wir gehen davon aus, daß sich 40 Prozent der syrischen Christen auf der Flucht befinden“, sagt Sabri Alkan, Vizepräsident der Assyrisch Demokratischen Organisation (ADO). Es gebe inzwischen kaum noch eine syrische Familie, die nicht von dem Krieg betroffen sei.

Die Stadt Qamischli war 1924 von assyrischen Christen gegründet worden. Bis in die fünfziger Jahre hinein bestand die Bevölkerung dort zu 98 Prozent aus Christen. Bereits wegen der jahrzehntelangen Unterdrückung durch die arabisch-sozialistische Baath-Partei hatte sich ihr Anteil bis heute auf etwa zehn Prozent reduziert. Jetzt – nach vier Jahren Bürgerkrieg – besteht die Gefahr, daß sie bald ganz aus Syrien verschwunden sein werden.

 

Syrien

Im März 2013 beschloß die Bundesregierung, im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion bis zu 5.000 besonders schützbedürftige Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien als sogenannte Kontingentflüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Sie durchlaufen kein Asylverfahren und erhalten sofort eine Arbeitserlaubnis.

Die meisten Bundesländer haben darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, jenen Syrern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, die Verwandte im jeweiligen Bundesland haben. Bedingung: Die Verwandten sind bereit und in der Lage, für den Lebensunterhalt der Flüchtlinge aufzukommen. Um dies zu garantieren, müssen sie eine diesbezügliche Verpflichtungserklärung unterschreiben.

Foto: Die Shamouns in Wiesbaden: Auf engem Raum, aber sicher. Die Familie will nicht in Verbindung mit jenen Asylbewerbern gebracht werden, denen es nur um Sozialleistungen geht

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