© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Grüße aus Santiago de Cuba
Besuch der alten Dame
Alessandra Garcia

Santiagueros fahren ungern nach Havanna, es sei denn für immer. Denn die Fahrt mit dem Astrobus dauert 17 Stunden. Und die Hauptstadt ist so anders als das beschauliche Santiago de Cuba: laut, schmutzig, teuer. Andererseits gibt es hier tolle Läden mit modischer Kleidung, die einfach darauf wartet, in der Provinz ausgeführt zu werden. Deswegen, und auch um Verwandte und Behörden zu besuchen, das eine freiwillig, das andere eher unfreiwillig, habe ich kürzlich die alte Dame im Westen besucht.

Es geht ihr nicht gut. Der Zahn der Zeit hat ihr stärker zugesetzt, als ich mir vorgestellt hatte. Die Stadtsanierer scheinen den Wettstreit zu verlieren. Ganze Straßenzüge am Malecón sind verschwunden. Meine Bekannten erzählen mir, daß mitunter Wohnblöcke über Nacht geräumt werden, weil sie jede Minute einzustürzen drohen.

Sechs Prozent der 2,1 Millionen Einwohner Havannas wohnen in Notunterkünften.

Um die 30.000 Familien mit etwa 132.700 Menschen hausen inzwischen in Notunterkünften. Das sind etwa sechs Prozent der 2,1 Millionen offiziellen Einwohner Havannas. Diese Zahlen stammen aus der Granma, der Tageszeitung der kommunistischen Partei. Für die Betroffenen sollen in den kommenden Jahren Tausende Neubauwohnungen in 13 Siedlungen in den Gebieten Mariano und Habana del Este errichtet werden. Sogar Kritik ist in der Granma zu lesen: In der Vergangenheit sei sehr langsam reagiert worden.

Auf der Straße steht derweil ächzend ein Autodrehkran. Weit hat er seinen Ausleger in eine Ruine gestreckt. An einem Haken baumelt ein rostiger Käfig, in dem ein Bauarbeiter steht, der eine stählerne Trosse um einen Baumstamm legt. Über viele Jahre dürfte der prächtig grünende Baum im Haus gewachsen sein, denn tief reichen seine verschlungenen Wurzeln. Jetzt verhindert er, daß die Gebäudeüberreste abgetragen werden können.

Als der Kranführer das Seil strafft, geht ein Aufschrei durch die Menge Neugieriger. Nicht der Baum neigt sich, sondern der TG 500E. Sofort läßt der Fahrer Seil nach und der Kran kracht zurück auf seine Hydraulikausleger. Ein Bauarbeiter schiebt sich genervt den Schutzhelm in den Nacken und schaut hinauf zu dem Stück Natur, das im Häusermeer der kubanischen Hauptstadt der Technik trotzt. Eine gute Stunde gehe das nun schon, erzählt mir ein Mann. „Warum nehmen die keine Säge?“ frage ich. Ein Bauarbeiter schaut ungläubig: „Wir sind hier nicht in der Provinz.“ Ich solle lieber einkaufen gehen. Ich folge dem Rat.

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