© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

In der Verschwiegenheit teilt sich vieles mit
Geschichten von der Grenze: Die in der Sprache ruhenden Erzählungen von Benjamin Alire Sáenz sind auf deutsch erschienen
Sebastian Hennig

Benjamin Alire Sáenz wurde 1954 in New Mexico geboren. Für seinen Band mit Erzählungen erhielt er vor drei Jahren den Faulkner Book Award. Nun ist dieser als erstes Buch von ihm auf deutsch erschienen. Der Titel „Alles beginnt und endet im Kentucky Club“ bezieht sich auf ein altes Lokal in Juarez/El Paso, zu dessen Aura neben anderen Berühmtheiten auch Marilyn Monroe und Arthur Miller beigetragen haben. Sie feierten dort ihre Scheidung. Das sind verblaßte moderne Mythen. Heute dagegen bestimmen die politisch-geographische Lage und die angespannte Situation an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko das Temperament der Bewohner dieses Landstrichs.

Die Erzählungen wollen nicht über konkrete Zustände unterrichten. Das geschieht allenfalls nebenbei, weil hier ein Autor aus seinem vertrauten Umfeld schöpft. Sáenz’ Erzählen ist einerseits von Nähe zu und andererseits von Diskretion gegenüber seinen Figuren gekennzeichnet. Es sind Geschichten um Drogen, Gewalt und Homosexualität, in denen die Familie, die Freundschaft, die Zuneigung, Liebe und Treue einen bedeutenden Platz haben. Das Kolorit ist unzweifelhaft amerikanisch. Aber wenn die Erzählungen so tief in der Sprache ruhen, ist ihr Milieu fast nebensächlich. Sáenz ist weder der Stimmführer der homosexuell orientierten Latinos noch ein romantischer Verklärer einer kriminellen Unterwelt. In erster Linie ist er ein begnadeter Erzähler.

Auf der ersten Seite des Buches findet sich der programmatische Satz „An der Grenze konnte man die Tragödie lieben, ohne eine tragische Gestalt zu sein.“ Die Gestalten dieser Erzählungen mögen gebrochene sein. Von den dabei entstandenen Bruchkanten wird die ganze Fülle des Lebens reflektiert. Trotz der Abgründigkeit mancher mitgeteilten Ereignisse hat die Lektüre etwas Stärkendes. Der Leser wird durch die Sprache in Schwingung versetzt.

Die Geschichten sind zwar nicht geschlossen, dafür aber abgerundet. So wie das flächig verzerrte Bild im Atlas die ganze Erdkugel darstellen soll. Die Mitteilungsweise ist knapp und kennzeichnend. Dabei bleibt nichts zwischen den Zeilen stecken, was spitzfindig dort herausgelesen werden müßte. Aber es gibt auch keine üppigen Beschreibungen. Kein Lokalkolorit wird herausgestellt. In der Verschwiegenheit der Personen teilt sich vieles mit.

Schwatzhafte Schreiber können von Sáenz lernen

Ein Satz aus „Die Regeln meines Vaters“ läßt sich gut auf diese Art des verborgenen Offenbaren beziehen: „Die Narbe jenes Nachmittags würde ich nicht im Gesicht tragen. Das war nicht der Ort, an dem ich sie bewahren würde.“ In dieser Erzählung schiebt eine allein lebende Mutter ihren Knaben von einem Tag auf den anderen seinem Vater zu. Dieser ist ein Drogendealer. Eher deswegen als dennoch ist er bemüht, seinen Sohn anständig aufwachsen zu lassen. Der stellt zuletzt fest: „Er war der Mann, der mir das Leben gerettet hat. Das war mein Vater.“ Diese Personen sind wirklich da. Sie „gehen ins Internet“, ohne sich darin aufzulösen. Wenn sie Kurznachrichten eintippen, dann geschieht das nicht, um ihre Zeitgenossenschaft zu beglaubigen.

Mit seinen literarischen Kollegen und Landsleuten hat Benjamin Alire Sáenz weniger gemeinsam als mit den lapidaren Erzählern von vor hundert Jahren, wie O. Henry und Ambrose Bierce. Unter dem Vorwand der Sensibilität vernachlässigen heute viele Autoren die Sprachgestaltung. Erschütterung wollen sie ungefiltert weitergeben und geraten damit oft in formloses Nachahmen. Solche Verkennung des Realismus der amerikanischen Erzähler hat hierzulande eine Schwemme von narrativer Kolportage-Belletristik ausgelöst. Von Benjamin Alire Sáenz können diese schwatzhaften Schreiber wieder lernen, daß Natürlichkeit und Sprachartistik zu verbinden sind und daß Lebensnähe möglich ist, ohne ins Vulgäre abzugleiten.

In der Tat lehrt der Autor schöpferisches Schreiben an der texanischen Universität in El Paso auf Spanisch und Amerikanisch. Seine eigenen Werke verfaßt er in amerikanischem Englisch. Etwas von seinem hispanischen Hintergrund bleibt in der gravitätischen Würde seiner Beschreibungen und Dialoge vernehmbar.

Die sieben Erzählungen sind bei aller Schlichtheit virtuos aufeinander abgestimmt. Die auf den ersten Eindruck trostlosen Geschichten sind in einem Klang vorgetragen, der mit dem Geschehen versöhnt. Der Zweifel wird nicht betäubt. Er ist auf hohem Niveau stabilisiert. So vermag er die Figuren nicht zu überfallen. Er geleitet sie und läßt sie dadurch menschlich werden. Denn im Zentrum der Vorstellung, von Gott nicht sonderlich geliebt zu werden, steht noch immer unverrückbar der Gottesbezug.

Ein eigener Ton ist selten in der Literatur geworden. Ein solcher benötigt einen bemessenen Resonanzraum. Der von Sáenz’ Prosa gestaltete Bereich ist überschaubar. Aber ein Könner benötigt keine Vielfalt.

Das zeitgleich im Thienemann-Verlag erschienene Jugendbuch des Autors handelt mit verwandten Personen im selben Umfeld. „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums“ ist nicht, wie der Titel vermuten läßt, eine Kulturgeschichte für Heranwachsende. Der Roman erzählt vielmehr von der Verbundenheit zwischen Ari und Dante. Die Jungen stammen aus verschiedenen Milieus. Des einen Bruder sitzt wegen doppelten Totschlags im Gefängnis. Sein Vater ist Veteran des Vietnamkriegs, der des anderen lehrt als Universitätsprofessor. Nicht nur die Söhne kommen sich in Verlauf der Handlung näher, sondern auch deren Eltern. Das fesselnde Geschehen wird in unaufgeregter Weise vorgetragen. Ein Buch, das gescheite junge Leute gewiß mit glühenden Ohren lesen werden.

Benjamin Alire Sáenz: Alles beginnt und endet im Kentucky Club. Erzählungen. Ripperger & Kremers, Berlin 2014, gebunden, 237 Seiten, 18,90 Euro

Benjamin Alire Sáenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums. Roman. Thienemann, Stuttgart 2014, gebunden, 384 Seiten, 16,99 Euro

Foto: Am Strand von Tijuana im Nordwesten Mexikos an der Grenze zu den USA: Gebrochene Gestalten

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