© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Der Flaneur
Die Nägel der Kontrolleurin
Josef Gottfried

Die Straßenbahn der Linie 2 steht am Bahnhof Mitte. Ich bin in Gorbitz zugestiegen und möchte in die Äußere Neustadt. Eine Reise von „Cordon Sport“ zu den Hipster-Strickjacken. Dynamo spielt heute, die Neubauwohnungen und die Studentenbuden schicken wieder ihre erlebnisorientierten Abordnungen zur angemessenen Repräsentation zwischen Hauptbahnhof, Innenstadt und Stadion. Dabei sind die Plattenbauten präsenter und viriler, und ich überlege, warum die Bahn stehenbleibt.

Nicht, daß sie ungepflegt ausgesehen hätten, sie waren aber sehr lang und grün.

Einige Momente später steigen drei Kontrolleure zu und bitten uns Passagiere um das Vorzeigen der Fahrausweise. Ich werde von einer Frau kontrolliert, die, müßte ich sie zuordnen, nach Gorbitz gehörte, jedenfalls hat sie diesen Stil stringent umgesetzt. Wortlos krame ich meine Viererkarte aus der Tasche und halte ihr das abgestempelte Papierchen hin.

Sie nimmt es mit einer beeindruckend tiefgebräunten Hand. Diese hat sie mit ebenso beeindruckenden Fingernägeln geschmückt. Nicht, daß sie ungepflegt ausgesehen hätten, sie waren aber sehr lang und grün und mit feinen, silbrigen Blumenmustern verziert. Die echten Nägel darunter waren schon gewachsen, so daß sie nicht mehr bündig mit der Fingerhaut abschlossen, die Frage lautet also: Müssen die künstlichen Nägel nun ausgetauscht oder einfach nur erneuert werden?

Während der Sekündchen, in denen sie den Stempel meiner Fahrkarte prüft, starre ich so auf ihre Hände und schaue ihr erst in ihr gekonnt geschminktes Gesicht, als sie mir die Karte zurückgibt. Das erweckt bei ihr wohl den Eindruck, als wolle ich ihr etwas sagen. „Ja bitte“, fordert sie mich freundlich dazu auf, und ich habe den Impuls, mich irgendwie anerkennend über ihre Nägel zu äußern.

Eine innere Stimme ruft mich aber zur Ordnung, und ich sage: „Danke, gute Fahrt“, was ja eigentlich ihr Satz gewesen wäre. Sie gibt sich zufrieden und läßt von mir ab.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen