© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Für die Unabhängigkeit am besten selbst kämpfen
Osteuropa: Aufgeschreckt durch den Ukraine-Krieg, haben Freiwilligenverbände in Polen und Lettland großen Zulauf
Christian Rudolf

Die Destabilisierung der Ukraine, eines Landes „gleich nebenan“ (Der Spiegel), durch die hybride Kriegsführung Rußlands (JF 8/15), flankiert durch ausgeklügelte Desinformationskampagnen nach KGB-Manier, hat die Bürger Osteuropas aufgeschreckt. Über die Mitgliedschaft in der Nato sind Polen und Balten durchweg froh. Aber darauf verlassen will sich im Ernstfall niemand. Die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, entgegen den Zusagen der Schutzmächte doch auf sich allein gestellt zu sein, sitzen tief zwischen Warthe und Düna, wo das historische Gedächtnis ausgeprägter ist als im wohlgenährten Westeuropa.

Manche denken darüber nach, die Zelte abzubrechen. Kārlis Bukovskis vom Lettischen Außenpolitischen Institut wird von der New York Times mit den Worten zitiert: „Die Leute kommen und fragen mich: Sollen wir weggehen?“ Mit Gedanken ans Kofferpacken trägt sich die junge Mutter Sniedze L. aus Riga. „Wir befürchten, die Russen könnten wiederkommen“, sagt sie der JF. Ihr Mann verdiene als Trickfilmzeichner nicht schlecht. „Wir denken über Irland nach, da gibt es gute Möglichkeiten für Kreative.“

Andere wollen ihr Vaterland verteidigen – und es im Fall des Falles den Russen so schwer wie möglich machen. Im ohnehin patriotisch gesinnten Polen gibt es riesiges Interesse an freiwilliger Landesverteidigung. Aktivisten wollen gar die legendäre Heimatarmee wieder aufbauen. 105 Gruppen dieser Initiative gibt es über das ganze Land verteilt.

Die Landwehr ist überall, nichts bleibt unbeobachtet

Kein Wunder: Laut einer Umfrage des Fernsehsenders TVN24 glauben 49 Prozent der Polen, daß Warschau bei einem Angriff nicht auf die Nato würde zählen können. Die Heimatschutzvereine sind offiziell mit der Armee verzahnt. General Bogusław Pacek ist seit November „Beauftragter für Verteidigungsini­tiativen aus der Gesellschaft“.

„Der politischen Situation in der Ukraine wegen“ hat sich der Softwareentwickler Jānis T. aus Riga im Januar den Freiwilligen der Lettischen Nationalgarde (ZS) angeschlossen. Diese 1991 gegründete Landwehr ist als Teil der Streitkräfte eine Art Armeereserve. Und erlebt enormen Zulauf. Traten vergangenes Jahr 812 Bürger ein, so waren es in den ersten acht Wochen dieses Jahres bereits 338, die sich für fünf Jahre verpflichteten. Die „Zemessardze“ umfaßt zur Zeit mehr als 8.000 Personen, davon etwa eintausend Frauen. Bis 2020 soll sie auf 13.000 anwachsen. Ihre Mittel wurden vom Staat gerade großzügig um 3,3 Millionen Euro aufgestockt. Jeder, der gesund und nicht vorbestraft ist, kann mitmachen. Die Motivation ist hoch: Daß Lettland unabhängig bleibt, dafür opfern die Mitglieder ihre Freizeit. Jānis muß am Wochenende zur Wehrübung. Waffenausbildung, Drill, Robben durchs Unterholz und Straßenkampfübungen unter realistischen Bedingungen finden ein bis zweimal pro Monat statt. Gegen das Einsickern russischer Omon-Einheiten oder aufständische einheimische Russen ist die Nationalgarde der beste Schutz. In jedem Dorf leben Mitglieder, nichts bliebe unbeobachtet.

Das Land diskutiert, die 2006 abgeschaffte Wehrpflicht wieder einzuführen. Während sich die Regierungskoalition noch sperrt, sind im benachbarten Litauen die Würfel schon gefallen. Ab September wird wieder einberufen, wegen, wie Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė begründete, der „gegenwärtigen geopolitischen Verhältnisse“.

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