© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Von der Realität eingeholt
20 Jahre Schengen II: Massenmigration, überbordende Kriminalität und die Erpressungspolitik von EU-Pleitestaaten sorgen für schlechte Stimmung
Michael Wiesberg

Die Abschaffung innerer Grenzen gilt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Einigung. Zum Synonym für den grenzenlosen, kontrollfreien Verkehr ist das luxemburgische Moseldorf Schengen geworden, wo Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten am14. Juni 1985 ein Abkommen unterzeichneten, mit dem die Schlagbäume zwischen den Ländern abgeschafft wurden.

Mittlerweile aber löst dieses Abkommen mehr und mehr Unbehagen aus, steht der Name Schengen doch zunehmend für grenzenlose Kriminalität und illegale Massenmigration. Die Schengen-Regeln, die auf dem Prinzip des Vertrauens und der Gegenseitigkeit basieren, funktionieren aufgrund der Probleme mit der inneren Sicherheit, die manche Schengen-Mitglieder trotz mehrfacher Überarbeitungen des Abkommens mit sich schleppen, nicht mehr.

Hinzu kommt, daß einige Länder des Schengen-Raumes das Ihrige taten, um die illegale Zuwanderung zu forcieren. Spanien zum Beispiel gewährte 2005 rund 700.000 illegalen, meist auf Afrika stammenden Zuwanderern Amnestie und löste damit eine fatale Sogwirkung aus. Italien verstieß in der Zeit der Regierung Berlusconi klar gegen das Schengener Abkommen, als es gestrandeten Flüchtlingen Touristenvisa ausstellte, die es ihnen ermöglichten, in EU-Staaten unterzutauchen. Daß diese Illegalen keine der Voraussetzungen für die Ausstellung eines Touristenvisums erfüllten (genügend Barmittel, Rückreiseticket etc.), rundet das Bild ab.

Dänemark zog schon einmal 2011 die Notbremse

Auch nach dem Abgang von Berlusconi im Novemer 2011 hat sich diese Praxis unter dessen Nachfolgern Mario Monti, Enrico Letta und Matteo Renzi nicht wirklich verändert: Ein Großteil der Flüchtlinge, die es bis nach Lampedusa schaffen, wird in andere Staaten der Europäischen Union durchgewunken (JF 37/14).

Viele kommen nach Deutschland, das zusammen mit Schweden die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Griechenland droht dieser Tage unverhohlen, das italienische Beispiel zu kopieren: „Wenn die Europäer nicht verstehen, was wir ihnen sagen, werden wir Reisedokumente an 300.000 Migranten verteilen, die dann Europa überfluten“, polterte der griechische Vize-Innenminister Giannis Panousis.

Das einstige Kronjuwel der europäischen Einigung droht damit zur Manövriermasse für Erpressungsversuche zu werden, die offenbar zu den neuen Umgangsformen zwischen den EU-„Partnerländern“ gehören. Vor diesem Hintergrund bekommen die Worte, die der ehemalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bei der 25-Jahr-Feier des Abkommens im Jahre 2010 zum besten gab – „Schengen ist ein gutes praktisches Beispiel, wie Europa funktioniert“ –, einen mehr als schalen Beigeschmack.

Die 30jährige Geschichte des Schengener Abkommens beginnt am 14. Juni 1985 im luxemburgischen Schengen: Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland und Luxemburg gehörten damals zu den fünf Gründungsstaaten des Abkommens. Am 19. Juni 1990 wurden mit dem Abschluß von „Schengen II“, dem sogenannten Schengener Durchführungsabkommen, Ausgleichsmaßnahmen für die entfallenden Grenzkontrollen eingeführt. Nach mehreren Verzögerungen, unter anderem verursacht durch die deutsche Wiedervereinigung, wurde „Schengen II“ am 26. März 1995 in Kraft gesetzt.

Die Länder verzichten seitdem auf Grenzkontrollen an ihren Binnengrenzen und verpflichten sich, ihre Außengrenzen besser zu schützen. Das Schengener Abkommen ermöglicht neben EU-Bürgern auch Besuchern aus Drittstaaten, sofern sie ein gültiges Schengen-Visum haben, kontrollfreie Reisefreiheit. Die Visa kosten 60 Euro und sind meist auf drei Monate befristet. Läuft das Visum ab, muß der Inhaber aus der Schengen-Zone ausreisen. Mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) wurde das Schengener Abkommen in das EU-Recht integriert.

Mittlerweile umfaßt die Schengen-Zone 25 Staaten: 22 von 27 EU-Staaten (ausgenommen Großbritannien, Irland, Zypern, Bulgarien und Rumänien) sowie zusätzlich Norwegen, Island und die Schweiz. Die Landgrenzen sind mehr als 7.700 Kilometer lang, die Seegrenze knapp 42.700 Kilometer. Zu den Schengen-Beitrittskandidaten zählen die EU-Staaten Bulgarien, Rumänien und Zypern. Kroatien, das seit dem 1. Juli 2013 der EU angehört, will in diesem Jahr die Kriterien für einen Schengen-Beitritt erfüllen.

In dieser Aufblähung des Schengen-Raumes, der immer mehr Staaten umfaßt, liegt ein Grund für die immer größer werdenden Probleme bei der inneren Sicherheit: Die illegale Zuwanderung und die organisierte Kriminalität, insbesondere aus dem osteuropäischen Raum, aber auch aus dem Süden, haben ein Ausmaß angenommen, das kaum noch zu bewältigen ist.

Im Mai 2011 zog Dänemark die Notbremse. Doch allein die Angekündigung, wieder permanente Grenzkontrollen einzuführen, empörte EU-Verantwortliche. Kommissionspräsident José Manuel Barroso hielt sie für „illegal“: Die „Bestimmungen über den freien Personen- und Warenverkehr und die Regeln des Schengen-Vertrages“ müßten „respektiert“ werden (JF 21/11).

Daß insbesondere die griechisch-türkische Grenze zu einem Einfallstor für Wirtschaftsflüchtlinge werden würde, war absehbar. 2011 plante deshalb die damalige griechische Regierung, an dieser Grenze eine 12,5 Kilometer lange Grenzmauer zu errichten, weil die Aufnahme illegaler Einwanderer ihre Grenzen erreicht hatte.

Brüssel gab hier wieder ein schönes Beispiel dafür, wie „Europa funktioniert“: „Zäune können nur eine kurzfristige Lösung sein“, beschied den Griechen damals ein Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. „Sie lösen aber nicht das Problem.“ Notwendig sei ein „Dialog mit den Herkunfts- und Transitländern der Migranten“.

Beim „Dialog“ ist es offenbar geblieben, der Zuwanderungsdruck durch illegale Flüchtlinge hat sich seitdem weiter potenziert; auch weil viele Illegale wissen, daß sie eine gute Chance haben, dauerhaft zu bleiben. Der Politikwissenschaftler Stefan Luft faßte das Dilemma der EU-Grenzpolitik mit folgenden Worten zusammen: „Nach Angaben der EU-Kommission wird nur jede dritte Ausweisungsverfügung tatsächlich umgesetzt. Solange die Wahrscheinlichkeit hoch ist, trotz Ablehnung längere Zeit oder sogar dauerhaft im Zielland verbleiben zu können, ist dies ein Anreiz einzureisen.“

Auf Druck von Frankreich und Deutschland wurde im Herbst 2014 die „Notfallklausel“ durchgesetzt: Staaten des Schengen-Raumes können künftig ihre Grenzen zeitlich begrenzt kontrollieren (maximal zwei Jahre). Voraussetzung ist, daß die innere Sicherheit aufgrund von erheblichen Defiziten beim Schutz der Schengen-Außengrenzen „massiv bedroht“ ist. Bis dahin galt diese „Notfallklausel“ nur für 30 Tage.

Verschärfte Kontrollen im Kampf gegen den Terror

Als nur begrenzt effektives Mittel gegen illegale Zuwanderung hat sich Frontex erwiesen, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten mit Sitz in Warschau, die 2005 gegründet wurde.

Die Agentur koordiniert operative Aktivitäten der Mitgliedstaaten an den Land-, See- und Flughafen-Außengrenzen der EU mit dem Ziel, ein hohes und einheitliches Niveau der Grenzüberwachung und der Personenkontrollen zu erreichen. Gut 300 Mitarbeiter sollen unter anderem folgende Aufgaben bewältigen: Koordination der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen, Erstellung allgemeiner und spezifischer Risikoanalysen, Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung ihrer nationalen Grenzschutzbeamten zur Schaffung gemeinsamer Ausbildungsstandards, Verfolgung der Entwicklung der Forschung zu Grenzkontrolle und -überwachung und anderes mehr.

2015 rechnet Frontex mit bis zu einer Million neuer Flüchtlinge, insbesondere aus Libyen; dem seien, so die Agentur, die Grenzschützer nicht gewachsen. „Frontex habe einfach nicht die Mittel und das Personal, um mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen zurechtzukommen“, betonte Frontex-Chef Fabrice Leggeri vor kurzem. Eine Entwicklung, die mit dem Einsetzen des „Arabischen Frühlings“ abzusehen war; insbesondere seit der durch Frankreich betriebenen Eliminierung Gaddafis, mit dem immerhin ein Abkommen zur Begrenzung der Migrantenflut geschlossen werden konnte. Seit Gaddafis Sturz ist Libyen auf dem Weg zu einem „failed state“. Hinzu kommt der steigende Flüchtlingsdruck durch den nicht enden wollenden Bürgerkrieg in Syrien.

Bezeichnenderweise ist es der „Kampf gegen den Terrorismus“, der jetzt zu einer Reaktion geführt hat. Dieser soll, so EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos vergangene Woche, im Vordergrund der Europäischen Sicherheitsagenda stehen, die im April vorgestellt wird. Die Grenzschutzbehörden sollen unter anderem gemeinsam definierte „Risikoindikatoren“ bei der „Durchführung systematischer Personenkontrollen“ nutzen. „Die Liste der Indikatoren“, so Avramopoulos, werde „in den nächsten Wochen von Europol fertiggestellt und mit der Unterstützung von Frontex umgesetzt“.

„Die gemeinsamen Regeln des Schengen-Abkommens sind offenbar nur eine Illusion“, konstatierte jüngst die FAZ. Anders ausgedrück: Die Träume von einem „Europa der Partner“, in dem Grenzen als unnötiger Ballast abgeworfen werden können, sind von der Realität unbarmherzig eingeholt worden.

Foto: Polens Regierungschef Donald Tusk, Kanzlerin Angela Merkel und der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, (v.l.n.r.) beklatschen am 21. Dezember 2007 die

Grenzöffnung der Europäischen Union nach Osteuropa: Jahre später ist am Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien von ausgelassener Feierstimmung wenig zu spüren

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