© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Pankraz,
H. Münkler und der sanfte Hegemon

Eine merkwürdige These hat der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler aufgestellt. Deutschland, so lehrt er, sei aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner geopolitisch günstigen Mittellage zum „Hegemon“ Europas aufgestiegen, aber das habe nur passieren können, weil das Land wegen seiner Geschichte zwischen 1933 und 1945 unheilbar „verwundet“ sei. Es könne jederzeit geistig kleingemacht und wirtschaftlich erpreßt werden – doch genau deshalb eigne es sich als Hegemon! Ein Hegemon sei heute, zumindest in Europa, nur als „verwundeter Hegemon“ denkbar.

Das ist ungefähr so, als würde man behaupten, ein Kompanieführer sei bei einer militärischen Operation nur dann einsatzfähig, wenn er verwundet im Lazarett liege. Oder ein Arzt könne bei einer Epidemie nur dann helfend eingreifen, wenn er selber von der Pest befallen sei. Das Gegenteil ist richtig: Der Arzt beziehungsweise der Kompaniechef kann seine hegemoniale Stellung nur ausfüllen, sofern er gesund und voll auf dem Quivive ist. Andernfalls würde er der Gemeinschaft, die auf ihn schaut, nur schaden.

Hegemonie ist alles andere als simple Herrschaft mit Befehlsstrukturen von oben nach unten, welche auch noch – eine Zeitlang wenigstens – funktionieren, wenn der Hegemon außer Gefecht gesetzt oder total blamiert ist. Hegemonien sind keine Staaten und auch keine Imperien, wo alles auf ein Kommando hört, sondern Bündnisse mit vielen formal gleichberechtigten Partnern, Städtebündnisse etwa wie einst im alten Griechenland, wo die jeweiligen Hegemone – Athen, Sparta, später Theben – nie das Alleinsagen hatten.

Sie „regierten“ nicht im einfachen, direkten Sinne des Wortes, sondern „übten Druck aus“, gaben Geld oder verweigerten es, operierten so, daß den Partnern à la longue nichts anderes übrigblieb, als sich dem Vorbildgeber anzuschließen, entfalteten „weiche Macht“, indem sie eigene technische oder künstlerische Leistungen für die Partner so interessant machten, daß diese sie nachahmten und so allmählich über Länder hinweg ein für den Hegemon günstiges, ihn schmeichelndes kulturelles Klima entstand.

Auf Dauer verwundete, folglich erpreßbare und risikolos abmelkbare Hegemone gibt es nicht. Die derzeit hegemoniale Stellung Deutschlands in Europa verdankt sich nicht, Münkler sei’s geklagt, seiner permanenten offiziellen Büßermiene wegen der NS-Vergangenheit, sondern höchst aktuellen und äußerst heiklen Konstellationen, die sich fast alle auf die Einführung des Euro zurückführen lassen. Wenn hier nicht bald etwas entschieden korrigiert wird, wird es nicht nur mit der deutschen Hegemonie, sondern auch mit dem Frieden in Europa vorbei sein.

Dieser Euro war von vornherein ein durch und durch ideologisches, an der europäischen Lebenswirklichkeit vorbeiwucherndes Gewächs. Helmut Kohl & Co. brachten ihn seinerzeit, allen Einsprüchen von Experten zum Trotz, als „Opfer für die deutsche Wiedervereinigung“ dar, weil der französische Präsident Mitterrand (der noch weniger von Ökonomie verstand als Kohl) die Zustimmung Frankreichs zur Wiedervereinigung davon abhängig machte, daß Deutschland seine starke D-Mark abschaffte, welche angeblich dem Gedeihen der übrigen europäischen Wirtschaften im Wege stand.

Gesagt, getan. Aber es kam dann bekanntlich ganz anders. Die deutsche Wirtschaft, die nun ihre Exporte verbilligen und dadurch rasant steigern konnte, wurde stärker, während die übrigen Wirtschaften, da sie nicht mehr abwerten konnten, in die Dauerkrise stürzten. Ungeheure „Rettungsfonds“ wurden für sie bereitgestellt und angezapft, doch es nützte nichts. Konkurse wurden verschleppt, Maastricht-Gesetze am laufenden Band gebrochen, doch es nützte ebensowenig. Der Euro, mittlerweile butterweich, erweist sich als lebensfeindliche Dauerpleite.

Wenn hier ein Hegemon zuverlässige Orientierung geben kann, dann gewiß kein durch die sprichwörtliche „Nazikeule“ verwundeter und dauerhaft verwundbar gemachter, der zudem à la Angela Merkel dauernd mit erhobenem Zeigefinger umherläuft – und sich am Ende doch mittels billigster Tricks erpressen läßt. Mit Sicherheit ginge es auch anders. Man sollte vielleicht einmal, wenn man auf deutsch-hegemoniale Zustände zu sprechen kommt, nicht auf die kurze Zeitspanne zwischen 1933 und 1945 zurückgreifen, sondern entschieden größere Zeiträume ins Auge fassen.

Die Deutschen wurden im Mittelalter zu Erben des römischen Imperiums, des ersten europäischen Reiches, das es gegeben hat. Genau diese jahrhundertelange Funktion als Verwalter des Reiches und seiner Idee hat sie – partiell selbst in schwersten Kriegsumständen – stets vor nationaler Einseitigkeit, etwa vor Sprachimperialismus oder kultureller Einheitssoße, bewahrt, was sie positiv von Briten oder Franzosen abhebt.

Stets gehörte zur Mentalität der Deutschen erkennbar die Überzeugung, daß der Staat zwar einerseits die inneren Bindekräfte des nationalen Bewußtseins braucht, um sich optimal zum Wohle aller entfalten zu können, daß aber andererseits zu diesem Bewußtsein substantiell die institutionelle Verbindung mit anderen Nationen und die Preisgabe gewisser Souveränitätsrechte, wie sie sich im Zuge der modernen Staatslehre herausgebildet haben, dazugehört. Die Einheit der Völker Europas ist in dieser Sichtweise gerade deshalb gefordert, weil sie integraler Bestandteil der nationalen Identität ist, geradezu ihr Garant.

Das moderne Deutschland ist zwar nach 1945 territorial grausam reduziert worden, doch es liegt nach wie vor in der Mitte Europas, und seine Wirtschaftskraft und sein seit alten Reichszeiten einverseelter Stil, vom Ganzen her zu denken, machen es ganz logisch zum Motor der Union, wenn man will: zu ihrem Hegemon, ihrem sanften Hegemon.

Wer sich freilich von vornherein als geborenen Verwundeten begreift, der fällt als politischer Hegemon aus. Ein europäischer Staatenbund ist schließlich kein Krankenhaus.

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