© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Zum Opfer stilisiert
Historische Schuld und Hypermoral: Der blinde Fleck der Islamkritik
Thorsten Hinz

Mit wachsender Geschwindigkeit besetzen der Islam und muslimische Funktionsträger symbolische und materielle Positionen im öffentlichen Raum. Der Moscheenbau, der oft gegen den Widerstand der Anwohner durchgesetzt wird, oder jüngst das Kopftuchurteil des Verfassungsgerichts sind zwei herausragende Beispiele.

Was unter Schlagworten wie Antidiskriminierung, Teilhabe oder Gleichberechtigung stattfindet, ist in Wahrheit die Privilegierung einer Religion und eines Milieus. Denn erstens ist der Nutzen einseitig, und zweitens werden muslimischen Zuwanderern vom Staat Sonderrechte konzediert. Sogar der Ruf „Juden ins Gas“, der im vergangenen Jahr auf antiisraelischen Demonstrationen zu hören war, löste nur dezente Reaktionen aus.

Der letzte, der eine unverblümte Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen wagte, war Thilo Sarrazin mit seinem Erfolgsbuch „Deutschland schafft sich ab“ (2010). Die Medien stilisierten ihn danach zur Personifizierung des Bösen. Darüber hinaus gingen mehre Dutzend Anzeigen wegen Volksverhetzung gegen ihn ein. Die Einstellungsverfügung umfaßte immerhin 16 Seiten. Ob ein weniger prominenter, vernetzter und gutbetuchter Autor mit vergleichbaren Aussagen so relativ schadlos davonkommen würde, ist heute noch zweifelhafter als vor fünf Jahren.

Die rechtliche Unsicherheit und die Furcht vor sozialer Ausgrenzung betrifft nicht nur Kritiker in Deutschland. 2008 veröffentlichte der französische Historiker Sylvain Gouguenheim das Buch „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die griechischen Wurzeln das christlichen Abendlandes“, in dem der arabische Beitrag zur europäischen Kultur als marginal eingeschätzt wird. Das Buch wurde von Le Monde positiv rezensiert. Kurz darauf veröffentlichte die Tageszeitung Libération ein von 56 Fachwissenschaftlern unterzeichnetes Protestschreiben, „das mit der Feststellung endet, Gouguenheims Ausführungen seien in keiner Weise wissenschaftlich, sondern Ausdruck einer ideologischen Haltung, deren politische Implikationen inakzeptabel seien“ (P. Bruckner).

Der Angriff war selber ideologisch motiviert; es ging um Politik, die fachlichen Ein- waren Vorwände. Inzwischen wird Gouguenheim als „islamophober Gelehrter“ gehandelt. Eine deutsche Übersetzung erschien 2011. Die Rezension in der Süddeutschen Zeitung trug den Titel: „Der Mittelalter-Sarrazin“. Wer sie heute im Online-Archiv der Zeitung aufsucht, wird direkt auf einen weiteren Artikel, „Das Dilemma der Islam-Kritiker“, verwiesen. Er handelt vom norwegischen Massenmörder Anders Breivik.

Das sind keine Zu- und Einzelfälle, sondern gehorcht einer Strategie, mit der der Islam unangreifbar gemacht und der Kritik entzogen werden soll. Gleiches gilt für seinen siamesischen Zwilling, die Zuwanderung nach Europa im allgemeinen.

Die britische Autorin Bat Ye’or (das hebräische Pseudonym von Gisèle Littman) hat in dem Buch „Europa und das kommende Kalifat“ (Dunker & Humblot, Berlin 2013; JF 33/13) detailliert dargestellt, wie diese Strategie im Zusammenspiel von internationalen Organisationen wie der Uno und Unesco, von supranationalen Gremien, von Regierungen, Stiftungen, Denkfabriken und nahöstlichen Geldgebern verwirklicht wird.

Der Orientspezialist Hans-Peter Raddatz beschreibt im Vorwort mit hohem soziologischen und philosophischen Anspruch die Grob- und Feinmechanismen dieser Praxis, die in einen vorerst sanften Totalitarismus führt. Das Zauberwort heißt „interkultureller Dialog“. Interessant ist in dem Zusammenhang, daß die Technische Universität Dresden, die ihre Studenten und Lehrkräfte zur Teilnahme an Anti-Pegida-Aktionen ermuntert hat, vom Halbleiterhersteller Globalfoundries gefördert wird, der dem Emirat Abu Dhabi gehört.

Warum wird den islamischen Kräften ihre Einflußnahme so leicht gemacht? Bat Ye’or glaubt, daß der Nahostkrieg 1973 den Anstoß gab. In seinem Fahrwasser verübten palästinensische Terroristen Anschläge in Europa. Unter deren Eindruck hätten die europäischen Staaten sich zu einer israelkritischen und pro-palästinensischen Haltung entschlossen. Außerdem spielten wirtschaftliche Interessen sowie die traditionelle Nähe der alten Kolonialmächte – insbesondere Frankreichs – zur arabischen Welt eine Rolle. Doch sind das bloß Anlässe, Auslöser und Katalysatoren.

Der politisch-ideologische Ursprung für die Entstehung „Eurabias“ reiche, so Bat Ye’or, in die 1930er Jahre zurück und liege in der Kollaboration europäischer Faschisten und Nationalsozialisten mit muslimischen Kreisen. So habe die „Muslim-SS“ auch in den „Todeslagern des Holocaust“ gedient. Nach dem Krieg seien alte Sympathisanten des Faschismus in Ost und West wieder in hohen Positionen tätig gewesen und hätten die Politik konditioniert. Auch Raddatz äußert die Überzeugung, daß sich in der aktuellen Politik eine „gewachsene Nazi-Orient-Vernetzung“ fortsetze. Alter Juden- und neuer Israelhaß sind demnach die politisch-ideologischen Triebkräfte, die Europa in die Arme des Islam taumeln lassen.

Bat Ye’ors historische Herleitung der moralischen und politischen Wehrlosigkeit des Kontinents erweist sich bei näherem Hinsehen als der schwächste Punkt in ihrem Buch. Genau gesagt handelt es sich um einen blinden Fleck, den sie übrigens mit dem französischen Schriftsteller und Philosophen Pascal Bruckner teilt. Bruckners Aufsatz „Die vertauschten Opfer“, den er vor einem Jahr veröffentlichte, wurde kürzlich von der Internetplattform Perlentaucher auch auf deutsch zugänglich gemacht.

Bruckner analysiert die islamische Strategie, sich als Opfer zu stilisieren, die von den Europäern Genugtuung und Privilegierung verlangen dürfen. Zu diesem Zweck wird die Islam- mit der Judenfeindschaft gleichgesetzt. Der Aufsatz frappiert durch das unvermittelte Nebeneinander von luzider Erkenntnis und fehlender Konsequenz. Bruckner fragt: „Woher dieses leidenschaftliche Bemühen, Antisemitismus und Islamophobie auf die gleiche Stufe zu stellen? Oder anders gefragt: Warum will heute jeder Jude sein, sogar und vor allem die Antisemiten?“

Die Antwort ist einfach: „Wenn erst einmal das Prinzip der Äquivalenz von Judäophobie und Islamophobie durchgesetzt ist, kann man auch das Prinzip der Entsorgung angehen: eine subtile, aber effektive Methode der symbolischen Enteignung. Jetzt sind wir an der Reihe, sagen die Fundamentalisten. Auf diese Art kann sich der Islam als Gläubiger der gesamten Menschheit präsentieren: Wir sind ihm etwas schuldig für die erlittenen Qualen seit den Kreuzzügen, die Erniedrigung des Kolonialismus, die Besetzung Palästinas durch die Zionisten und schließlich für das schlechte Image, unter dem die Religion des Propheten leidet. Bei ihm müssen wir die moralische Schuld abtragen, die wir bis dahin den Juden erbracht haben.“

Politik wird als das Eintreiben von Bußgeld verstanden. Bruckner kritisiert nicht das Verfahren, sondern daß die Falschen es sich anmaßen.

Bei einer Enteignung geht es um Kapital, das dem Besitzer durch Besitzlose oder Konkurrenten streitig gemacht wird. Bei Marx heißt der Vorgang „Expropriation der Expropriateure“ und bezeichnet die revolutionäre Enteignung von Besitzenden, die ihren Besitz der Enteignung anderer verdanken. Bruckner meint explizit das symbolische Kapital des Holocaust, der „zu einem monströsen Objekt der Begierde geworden (ist): Nicht als Abscheulichkeit schlägt (er) alle in den Bann, sondern als ein perverser Schatz, aus dem sich jeder nach Belieben bedienen zu können glaubt.“

Der Islam strebe danach, „sich das größtmögliche Unglück unter den Nagel zu reißen, sich zu seinem einzigen legitimen Eigentümer zu erklären“ und damit „einen Status zu erlangen, der den anderen Religionen vorenthalten wird: den Status der Ausnahme, der das ‘außerordentliche Privileg’ einschließt, nicht in Frage gestellt zu werden, es sei denn, man möchte sich des Rassismus bezichtigen lassen“. Das sei eine „semantische Erpressung“.

Den Erpressern geht es um Macht und handfeste materielle Vorteile. Implizit räumt Bruckner ein, daß die Strategie des Islam mimetische Qualität besitzt: Er ahmt ein Verfahren nach, das im Bann der Holocaustfixierten Zivilreligion üblich und akzeptiert ist. Das bedeutet aber, daß die zivilreligiöse Praxis in Europa moralisch, psychologisch und politisch den Boden für das Vordringen des Islam bereitet hat. Nach ihrer erfolgreichen Adaption geht er daran, sie zu überformen und mit neuem Inhalt aufzufüllen. Sein Erfolg erklärt sich nicht zuletzt aus der Verwirrung, die die Zivilreligion in den Köpfen gestiftet hat: Politische Konflikte, Interessengegensätze, Unvereinbarkeiten werden nicht mehr politisch, sondern unter den Gesichtspunkten der Hypermoral und der historischen Schuld betrachtet. So öffnet man der eigenen Erpressung Tür und Tor.

Diesen Zusammenhang lassen Bat Ye’or und Pascal Bruckner unerwähnt: Er bildet ihren blinden Fleck. Doch nur wer begreift, auf welcher Grundlage die islamische Hybris erfolgreich ist, kann ihr entgegenwirken. Die Europäer, Juden und Nichtjuden, haben zwingende Gründe, ihre gemeinsame Interessenbasis neu zu bestimmen.

Foto: Muslimischer Demonstrant in Berlin (2014): Die antiisraelischen Parolen lösten in der öffentlichen Wahrnehmung nur dezente Reaktionen aus

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