© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Hilferufe und Durchhalteparolen
Einwanderung: Während Länder und Kommunen durch immer mehr Asylbewerber belastet werden, fordern Forscher mehr Zuwanderung
Christian Schreiber

Die Welt ist in Aufruhr. Terroranschläge, Kriege und politische Instabilitäten haben die Zahl der Asylbewerber auf ein Höchstmaß steigen lassen, wie es vor allem Deutschland zuletzt vor 20 Jahren erlebt hatte. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zählte im Jahr 2014 in den Industrieländern 866.000 Asylbewerber. Diese Statistik entspricht einem Zuwachs von 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zuletzt hatte es Anfang der neunziger Jahre während des Jugoslawien-Kriegs einen solchen Zustrom von Asylbewerbern gegeben.

Deutschland war auch im vergangenen Jahr das bevorzugte Ziel. 173.000 Menschen stellten den Vereinten Nationen zufolge einen Asylantrag in der Bundesrepublik. Eine Berechnung der Bundesländer spricht allerdings von mehr als 200.000 Anträgen. Die meisten Asylbewerber stammten aus Syrien und dem Irak. Damit nimmt Deutschland rund ein Fünftel aller Flüchtlinge auf. Und die Prognose der Bundesländer verheißt für das laufende Jahr einen weiteren Anstieg. Mehrere Innenminister haben sich nach einem Bericht der Welt am Sonntag demnach beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für eine Anhebung der bestehenden Vorhersage ausgesprochen. Bislang gehen die Prognosen von rund 300.000 Asylanträgen in diesem Jahr aus. „Wenn wir unsere Zahlen hochrechnen, müssen wir 2015 in Deutschland mit 500.000 bis 550.000 neuen Asylbewerbern rechnen“, sagte Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt (SPD), der auf die politischen Probleme hinwies, die für die Länder entstehen: „Wir werden Hilfe vom Bund brauchen. Alleine können wir das nicht stemmen.“ Die Kosten explodieren, die Unterbringungsmöglichkeiten werden knapp.

Neuer Streit zwischen Bund und Ländern

Die Ministerpräsidenten aller 16 Bundesländer forderten nach einem Treffen eine deutlich stärkere Beteiligung des Bundes bei der Unterbringung und medizinischen Versorgung der Asylbewerber. „Es handelt sich um eine gesamtstaatliche, nationale Herausforderung, die gemeinsam bewältigt werden muß. Hier ist besonders der Bund gefordert, die Situation nicht kleinzureden, sondern ernst zu nehmen“, sagte der brandenburgische Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) der Nachrichtenagentur dpa. Erwartet werde, daß sich der Bund an den Kosten beteilige und für dauerhafte Planbarkeit sorge. Der Bund müsse einen strukturellen Vorschlag machen zur Entlastung von Ländern und Kommunen. „Ich glaube, daß der Bund die Situation in den Kommunen und Ländern deutlich unterschätzt.“

Damit ist eine neue Runde im Streit zwischen Bund und Ländern eröffnet. Das Bundesinnenministerium wies die Forderung der Länder umgehend zurück. Ein Sprecher von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte, die Vereinbarung vom vergangenen Dezember, wonach die Länder dafür 2015 und 2016 je 500 Millionen Euro erhalten, sei abschließend gewesen. Es gebe derzeit keinen Anlaß, die Prognose des Bundesamtes in Frage zu stellen. Es sei falsch, von den Asylbewerberzahlen im vergangenen Januar und Februar auf das Gesamtjahr zu schließen, da es gerade im Februar durch eine „Massenzuwanderung“ aus dem Kosovo einen Sondereffekt gegeben habe. Der gesetzliche Rahmen sieht vor, daß der Bund für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig ist, die Länder aber für Unterbringung und Versorgung aufkommen müssen.

Längst hat das Thema auch schon die EU erreicht. In der vergangenen Woche teilte die EU-Kommission mit, daß Deutschland in den kommenden sieben Jahren rund 350 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe und innere Sicherheit erhält. Davon entfallen rund 221 Millionen Euro auf Mittel aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) Der Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Dimitris Avramopolous, sagte zur Begründung, die Mitgliedstaaten könnten die Kosten der Einwanderung nicht alleine tragen. Mit den Mitteln des Asylfonds sollen die deutschen Bemühungen zur Erhöhung der Aufnahmekapazitäten von Asylbewerbern unterstützt, sowie die Qualität der Asylverfahren gemäß den Standards der Union verbessert werden. Auch dient das Geld dazu, die Integration der Migranten auf lokaler und regionaler Ebene zu verbessern sowie die Nachhaltigkeit der Rückkehrprogramme zu gewährleisten.

Die wachsenden Probleme von Bund und Ländern wird dieses Geld indes nicht lösen. Sie haben im vergangenen Jahr bereits viel versucht, um des Probles Herr zu werden. So wurde das Asylrecht modifiziert, mehrere osteuropäische Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Zudem wurde angekündigt, die Verfahren zu beschleunigen. Ein Großteil der Asylanträge stellte sich in der Vergangenheit als unzulässig heraus, doch in vielen Fällen verzichteten die Behörden auf eine Abschiebung. Hierbei spielten teils humanitäre, teils juristische Probleme eine Rolle. Mehrere Politiker haben daher ein Umdenken in der Asylpolitik gefordert. Die zumeist jungen, männlichen Bewerber könnten perspektivisch auf dem deutschen Arbeitsmarkt von Nutzen sein. Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) sprach sich in der vergangenen Woche dafür aus, illegalen Ausländern in Deutschland ein Aufenthaltsrecht einzuräumen. Den etwa 500.000 Illegalen solle mit einer Stichtagsregelung die Möglichkeit gegeben werden, ihren Aufenthalt zu legalisieren, erklärte er gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Asylbewerber und Geduldete sollten nach Schneiders Ansicht nicht nur nach drei Monaten eine Arbeitserlaubnis beantragen können, sondern sie müßten auch Zugang zu staatlich finanzierten Sprach- und Integrationskursen erhalten. Denn Deutschland würden in naher Zukunft Arbeitskräfte fehlen.

Studie fordert 500.000 Einwanderer

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Nur wenn langfristig pro Jahr durchschnittlich 533.000 mehr Menschen zu- als abwanderten, lasse sich die Lücke füllen, die durch das Ausscheiden der in den fünfziger und sechziger Jahren geborenen Babyboomer aus dem Beruf entstehe, haben Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für die Stiftung errechnet. Die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter ohne Zuwanderung wird laut Studie von rund 45 Millionen auf 29 Millionen im Jahr 2050 sinken, weil die Generation der geburtenstarken Jahrgänge bis 2030 das Rentenalter erreicht haben wird.

Mit Blick auf das aktuelle Hoch bei den Einwandererzahlen geben die Forscher im gewissen Sinne Entwarnung: Das derzeitige Rekordhoch der Zuwanderung aus EU-Staaten (2013: netto rund 300.000) werde sich nicht fortschreiben. Ein Grund sei der demographische Wandel, der in der gesamten EU die Bevölkerung schrumpfen lasse. Auch werde bei einer wirtschaftlichen Erholung der Krisenländer der Anreiz zur Auswanderung sinken. Die Studienautoren rechnen daher bis 2050 im Durchschnitt nur noch mit bis zu 70.000 Einwanderern aus EU-Staaten pro Jahr. „Dies wäre immer noch eine erheblich höhere Einwanderung als in den 35 Jahren bis 2010: Da war der Wanderungssaldo mit der EU zumeist ausgeglichen“, berichten die Experten des IAB.

Nach ihrer Ansicht benötigt Deutschland daher bis 2050 pro Jahr netto zwischen 276.000 und 491.000 Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten. Diese Gruppe habe 2013 unter dem Strich jedoch lediglich 140.000 Einwanderer und damit nur rund ein Drittel der gesamten Nettozuwanderung ausgemacht, bedauern die Forscher. Zudem seien die meisten der Drittstaatler aus familiären und humanitären Gründen, für ein Studium oder eine Ausbildung nach Deutschland eingewandert. Mit der Blue Card der EU oder über andere Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit seien hingegen noch nicht einmal 25.000 qualifizierte Fachkräfte ins Land gekommen. „Deutschland darf sich nicht auf eine weiterhin hohe Einwanderung aus der EU verlassen. Wir müssen jetzt die Weichen stellen, damit Deutschland als Einwanderungsland auch für Drittstaatler attraktiver wird“, lautete denn auch das Fazit von Bertelsmann-Stiftungsvorstand Jörg Dräger. Er schloß sich auch gleich noch den Forderungen nach einem Einwanderungsgesetz an. Seiner Ansicht nach zeige die Migrationsforschung, daß Staaten dann für ausländische Fachkräfte attraktiv seien, wenn sie gute Chancen auf Teilhabe böten. Dazu gehörten Sprachförderung, Integration in den Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Gleichstellung und Schutz vor Diskriminierung.

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