© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Unter englischem Recht
Staatsbankrott: Nicht nur Griechenland, auch die Ukraine braucht bald einen Schuldenschnitt / Landeswährung Griwna im freien Fall
Thomas Kirchner

Die Ukraine steht am Abgrund (JF 9/15). Im Osten ist die Waffenruhe brüchig. Und vorige Woche tobte in Kiew ein medienwirksamer Oligarchenkrieg zwischen Igor Kolomojski (Privat-Gruppe, Gouverneur des Bezirks Dnipropetrowsk) und Petro Poroschenko (Ukrprominvest, Staatspräsident), bei dem der mit drei Staatsbürgerschaften ausgestattete Kolomojski vorerst dem Staatschef unterlag. Gleichzeitig stimmte der Deutsche Bundestag für das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Brüssel billigte eine Woche nach der Visite des ukrainischen Premiers Arsenij Jazenjuk bei EU-Kommisionschef Jean-Claude Juncker zusätzliche 1,8 Milliarden Euro Finanzhilfe für die Ex-Sowjetrepublik.

Dabei ging die Meldung unter, daß die Ukraine trotz westlicher Milliardenhilfen mit ihren Gläubigern längst Gespräche über eine Umschuldung führt. Ein solcher Schritt sei zwar erst 2016 akut, „aber wir wissen, daß sie bereits Sondierungsgespräche führen“, erklärte Lubomir Mitov, Volkswirt des internationalen Bankenverbands IIF (Institute of International Finance). Griechenland daher ist nicht das einzige Land, bei dem privaten und öffentlichen Kreditgebern ein neuer Schuldenschnitt droht.

Erster Schuldenschnitt erfolgte im Jahre1998

Auch der Ukraine droht erneut ein Staatsbankrott. Der jüngste griechische „Haircut“ ist nur drei Jahre her, die Ukraine setzte zuletzt im Jahr 1998 einen Schuldenschnitt durch, bei dem Anleger einen Wertverlust von 28 Prozent hinnehmen mußten. Beim griechischen Schuldenschnitt wurde der Nominalwert der Schulden um 50 Prozent reduziert. Zusammen mit der Verlängerung der Laufzeit und Senkung der Geldpapiere kamen die Anleger dann aber auf einen Wertverlust von sagenhaften 80 Prozent. Damit waren die Verluste auf Griechenlandanleihen sogar noch etwas höher als die beim finanzpolitischen Schurkenstaat Argentinien im Jahr 2001, als der Verlust bei „nur“ 73 Prozent lag.

Nach IWF-Schätzungen wird die Ukraine 40 Milliarden Dollar für die nächsten vier Jahre benötigen. Davon hat der IWF Anfang des Jahres 17,5 Milliarden bewilligt. Die Weltbank und westliche Staaten wollen 6,7 Milliarden beisteuern. Bleibt eine Lücke von bis zu 15,8 Milliarden, die vermutlich durch einen Schuldenschnitt oder eine nicht so dramatische klingende Umschuldung finanziert werden soll. Als Vorleistung für IWF-Milliarden muß die ukrainische Regierung mit den Haltern ihrer Anleihen über eine „Schuldenoperation“ verhandeln, um die Schuldenlast nachhaltig zu stabilisieren. Der Zeitrahmen dafür läuft bis Ende Juni.

Das muß nicht direkt auf einen Schuldenschnitt hinauslaufen, auch wenn die in Chicago geborene Finanzministerin Natalie Jaresko in einer ersten Telefonkonferenz mit Anleihehaltern darauf bestand. Denkbar ist genausogut auch eine Verlängerung der Laufzeit der Anleihen oder Reduktion der Kupons, vielleicht mit einer zukünftigen Ausgleichszahlung in Abhängigkeit der Wirtschaftsleistung („GDP Warrants“), wie dies schon öfters in Entwicklungsländern gehandhabt wurde.

Absolute Zahlen wie die 40 Milliarden Dollar Kreditbedarf der Ukraine haben bei Staatsschulden wenig Bedeutung, denn es kommt auf die Höhe relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) an. Das ist 2014 angeblich um sieben Prozent gefallen. Bei Statistiken eines vom Bürgerkrieg verwüsteten Landes ist jedoch Skepsis angebracht. Verschärft wird die Schuldensituation durch das Haushaltsdefizit, das im vergangenen Jahr zwischen sieben und acht Prozent lag. Optimistische Schätzungen rechnen in diesem Jahr mit drei bis vier Prozent.

Die ukrainische Landeswährung war bis Ende 2013 mit zehn bis zwölf Griwna (Hrywna) für einen Euro mehrere Jahre relativ stabil. Seit Frühjahr 2014 mußten mindestens 16 Griwna bezahlt werden, im Februar schoß der Kurs kurzzeitig über 35 hoch. Derzeit sind es 24 Griwna pro Euro – die Halbierung des Außenwertes läßt die Schulden in Fremdwährung entsprechend steigen.

Niedrige Anleihepreise, teure Kreditversicherungen

Rechnet man dies ein, dann sind die Staatsschulden der Ukraine von unter 40 Prozent des BIP (unter der Herrschaft des geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowitsch) auf aktuell weit über 100 Prozent gestiegen. Sollten sich die selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk dauerhaft von der Ukraine abspalten, würde das BIP nochmals um 15 Prozent sinken – und die Schulden relativ zur Wirtschaftsleistung entsprechend steigen. Die pessimistischen Prognosen der US-Bank JP Morgan gehen sogar von einem Schuldenstand von 130 Prozent des BIP aus.

Der Finanzmarkt reagiert dementsprechend. Die Anleihepreise der Ukraine sind auf unter die Hälfte des Nominalwerts gefallen. Kreditversicherungen (Credit Default Swaps/CDS) mit einem Jahr Laufzeit kosten rund 8.000 Basispunkte (80 Prozent des Wertes). Im Gegensatz zu Griechenland, als eine vergleichbare Kursentwicklung 2012 als Auswuchs der Spekulation skrupelloser Hedgefonds und sogar als Attacke gegen den Euro gewertet wurde, ist diesmal aus Politik und Medien keine irrationale Finanzmarktkritik zu hören.

Der derzeitige Schuldenstand der Ukraine beträgt in etwa 70 Milliarden Dollar, wovon etwa 60 Prozent in harter Währung notieren. In den nächsten vier Jahren werden Anleihen und Kredite über 12,5 Milliarden Dollar fällig, dazu kommen Zinszahlungen in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar. Die Devisenreserven belaufen sich bestenfalls noch auf sechs Milliarden Dollar. An einer Laufzeitverlängerung der fälligen Papiere führt kein Weg vorbei. Um bei 70 Milliarden Gesamtverschuldung auf einen Schuldenschnitt von 15,8 Milliarden Dollar zu kommen, werden wohl auch öffentliche Kreditgeber bluten müssen.

Eine ukrainische Restrukturierung wird spannend, weil die meisten in harter Währung unter englischem Recht emittierten Anleihen Umschuldungsklauseln (Collective Action Clause/CAC, JF 35/14) enthalten, die bei einer Zustimmung der Mehrheit der Anteilseigner zu einer Umschuldung auch die nichtzustimmende Minderheit binden. Beim ersten griechischen Haircut gab es diese Klauseln noch nicht. Die CAC wurden in der Griechenlandkrise als Allheilmittel angepriesen, mit dem widerspenstige Restrukturierungsverweigerer bei zukünftigen Umschuldungen zur Teilnahme gezwungen werden sollten.

Jetzt wird sich erweisen, ob es in der Praxis auch so funktioniert, wie es sich die Wirtschaftsplaner erträumen. Denn manchen ukrainischen Anleihen sollen sich in der Hand weniger Akteure befinden. Wenn mehr als 25 Prozent der Halter einer Anleihe gegen eine Restrukturierung stimmen, scheitert sie für diese Anleihe. Passiert das bei mehreren Anleihen, kann die gesamte Umschuldung platzen. Das weckt Rufe nach noch drastischeren Zwangsmaßnahmen, und das alte Wundermittel CAC wird wohl durch ein neues Wundermittel ersetzt.

New Yorker Kanzleien verhandeln Umschuldung

Halter der Hälfte der Anleihen haben sich schon zu einer Gruppe zusammengeschlossen und die New Yorker Kanzlei Weil, Gotshal & Manges als Rechtsbeistand engagiert. Die Ukraine wird von der ebenso renommierten Kanzlei White & Case repräsentiert. Die Verhandlungen werden also hart laufen.

Um einen Schuldenschnitt in Höhe von 15,8 Milliarden Dollar zu erzielen, müßte der Nominalwert aller nationalen wie internationalen Schulden um ein knappes Viertel reduziert werden. Einfacher wäre es, den Nominalwert beizubehalten, aber die Laufzeiten zu verlängern und die Kupons zu verringern. Bei solchen Konditionen ist die Zustimmung der Kreditgeber leichter zu erreichen als bei der Reduzierung des Nominalwerts. Dadurch bewirkt man eine vergleichbare Senkung der Schuldenlast und muß die fälligen 12,5 Milliarden erst später auszahlen.

Darüber hinaus hätte die Ukraine einiges an Einsparpotential bei den Staatsausgaben. Allein der staatliche Erdgaskonzern Naftogaz ist für ein Etatdefizit von sechs Prozent verantwortlich. Die Verluste sind jedoch nicht auf den Streit mit der russischen Gazprom, sondern in erster Linie auf jahrelange Korruption und massive Unterschlagung zurückzuführen. Provinzfürsten stehlen die Einnahmen der regionalen Gasverteiler. Die sind dann nicht in der Lage, die Lieferungen von Naftogaz zu zahlen. Abklemmen kann man das Gas in einer ganzen Region nicht, also gleicht der Staat bislang die Verluste von Naftogaz aus. Das daraus resultierende Haushaltsdefizit wiederum wird vom IWF und privaten Kreditgebern finanziert. So dient Naftogaz letztlich der Verteilung von IWF- und EU-Hilfen in die Taschen der lokalen Mafia.

Foto: Ukrainischer Premier Jazenjuk in Brüssel: Trotz Korruption und drohendem Staatsbankrott fließen weitere Milliardenhilfen der EU-Steuerzahler

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