© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/15 / 03. April 2015

Wo Gauchos noch Gauchos sind
Unterwegs im Süden Brasiliens: Fernab von Copacabana und Samba-Lebensart wird die Cowboykultur noch gepflegt und durch Canyons geritten
Lukas Noll

Die Uhr am Kirchturm schlägt zum Mittag, und die Welt steht still: Cambará do Sul verabschiedet sich in die Siesta und plötzlich ist alles noch ruhiger als ohnehin schon hier in diesem kleinen südbrasilianischen Städtchen, das wie präpariert wirkt für einen Western.

Zur Mittagszeit versinkt Cambará in den Schlaf, reitet höchstens noch ein Gaucho durch die Straßen. Supermärkte, Banken und Geschäfte, alle haben sie jetzt geschlossen. Selbst der Taxifahrer steht nicht mehr am schön hergerichteten Kirchplatz. Hat sich ja doch wieder kein Tourist gefunden, der zu den kostspieligen Tarifen zu einem der Canyons gefahren werden will. Die Sonne brennt heiß an einem Sommertag wie diesem, obwohl Cambará auf seinen 1.030 Metern für brasilianische Verhältnisse beinahe astronomisch hoch liegt. Daß im Winter manchmal sogar Schnee fällt, ist nicht die einzige Besonderheit, mit der sich Brasiliens tiefer Süden vom afrikanisch geprägten Norden und Rios Partystränden abhebt.

Das Reiten lernen wir hier von Kindesbeinen an

Julio D.F. Nery rückt seinen Cowboyhut zurecht, der eben kein Cowboyhut ist, sondern ein Gauchohut, wie er betont. Wenn der Rest der Stadt im Mittagsschlaf versinkt, ist die Stunde des Rangers gekommen. Schließlich chauffiert er nicht nur zu den rund zwanzig Kilometer entfernten Canyons, sondern kennt die Landschaft wie seine linke Westentasche. Gewissermaßen verkörpert Julio die Gegend wie sonst vielleicht nur noch einer der Viehtreiber und Rinderzüchter Cambarás: der Gauchos eben.

Rucksack und Proviant werden auf die Tragfläche des Pick-ups geworfen und der Geländegang eingelegt. Ob Julio den staubigen Pistensteinen eine Straße vorziehen würde, führte eine solche zu den Canyons? Fraglich. „So macht das doch erst richtig Spaß“, grinst der 58jährige warm durch seinen ergrauten Schnauzbart. Mit der Jungfrau scheint es abgesprochen: Neben Reitersporen und Steigbügel hängen ein Rosenkranz und ein Bahia-Band vom Rückspiegel runter. Die bunten Bändchen aus der brasilianischen Wallfahrtskirche Nosso Senhor do Bonfim in Salvador müssen erst abfallen, bevor sie Wünsche in Erfüllung bringen. Vielleicht arbeitet der rasende Ranger ja daraufhin.

Bis plötzlich eine Gruppe von Pferden den Weg versperrt und sich partout weigert, dem Pick-up zu weichen und den Weg freizumachen. Für den Ranger ein alltäglicher Zwischenfall. Ein eingeübter Pfiff mit beiden Fingern löst das Problem. „Wie soll man es diesen Tieren übelnehmen?“ fragt er. Das Reiten lernt man hier von Kindesbeinen an, selbst wenn man sich wie Julio dagegen entscheidet, hauptberuflich Rinderherden über die weiten Graslandschaften der Serra Gaucha zu treiben. „Ich arbeite nicht als Gaucho“, sagt er. „Aber natürlich bin ich ein Gaucho, was denn sonst!“

Von Deutschlands „Gaucho“-Skandal rund um die siegestrunkene Nationalmannschaft nach ihrer Rückkehr aus Brasilien hat Julio in Cambará nichts mitbekommen. Trotz – oder gerade wegen der Nähe zu Argentinien hat der Ranger Deutschland angefeuert. Dabei sind sich die Gauchos dies- und jenseits des Grenzflussaes Río Uruguay gar nicht so unähnlich. Auch in Rio Grande bestimmen Rinderherden und ihre Hirten das kulturelle Selbstverständnis, hat Brasilien das sozialistisch heruntergewirtschaftete Argentinien doch mittlerweile gar als Rindfleischexporteur überholt.

Auch in Rio Grande greift der Gaucho liebend gerne zum Matetee, der hier wie dort ins Stadtbild gehört – auch in Brasiliens wildem Westen, der Serra Gaúcha. Daß das Wort „Gaucho“ in Deutschland solche Wellen schlagen konnte, gar als Rassismus gebrandmarkt wurde, kann Julio nicht verstehen. „Was soll denn daran rassistisch oder beleidigend sein?“ fragt er entgeistert. „Ich bin stolz, ein Gaucho zu sein!“ Und überhaupt: „Aus allem machen sie einen Skandal, hier ist es das gleiche. Neulich mußte eine Fernsehmoderatorin zurücktreten, weil sie einen Fußballspieler als Affen bezeichnet hatte.“ Der Ranger hält kurz inne: „Immer so ein Skandal um nichts.“

Bedächtig streicht er über die grün-rot-goldenen Farben von Rio Grandes Fahne am Armaturenbrett, als wolle er damit zeigen, daß die Welt zumindest im Süden noch in Ordnung sei. Demut hat das Land, das sich für die schönsten Frauen rühmt und selbst Gott als Brasilianer ansieht, nirgends mit Löffeln gefressen.

Doch wohl nirgends übertrumpft der regionale Patriotismus den brasilianischen Nationalstolz nochmals derart um Längen wie in seinen südlichen Breitengraden. „Es würde denen mehr weh tun als uns“, befindet der Ranger über eine Loslösung Rio Grandes vom Rest Brasiliens. Eine Idee, welche die Südbrasilianer immerhin neun Jahre lang gegen die Kaiserfamilie in Rio de Janeiro verteidigten, nachdem 1836 die unabhängige Republik Piratini ausgerufen wurde. Noch immer findet die Idee vom unabhängigen Süden manchen Anhänger. Doch vor dem entscheidenden Schritt schreckten sie dann zurück, meint Julio: „Es würde denen auch mehr schaden, als es uns nutzen würde.“ Soviel Nationalstolz muß dann doch sein. Auch wenn der Norden nur das konsumiere, was der Süden produziere, wie er noch anmerken möchte.

Man genießt die Einsamkeit in den Canyons

Etwas klingt Julio wie ein US-amerikanischer Südstaatler, und das nicht nur im geographischen Sinne. Der Cowboy, der keiner sein will, spiegelt die Ressentiments von und gegenüber amerikanischen „Rednecks“ in einer so freundlichen Art und Weise wider, daß sofort offenbart wird, daß er eben kein „Yankee“ oder „Gringo“ ist, wie er sagen würde. Es ist besonders das warmherzige, fast lieblich genuschelte brasilianische Portugiesisch, das Texas so weit weg wirken läßt, wie es ist – obwohl die Westernstadt Cambará auf den ersten Blick andere Erwartungen weckt.

Endlich ist Julio an seinem Wunschziel angekommen, dem Eingang zum Nationalpark Aparados da Serra. Eine kleine Ausstellungshalle bietet der Park seinen Besuchern, ansonsten läßt er seine Natur für sich sprechen. Einige Kilometer lang kann ich die wahre Pracht der Natur nur durch die dichte Baumkulisse erahnen, die alle paar Dutzend Meter eine riesige Araukarie und deren imposante Baumkrone hervorbringt. Doch dann tut sich in Gestalt des Itaimbezinho ein Canyon auf, der nicht nur Naturfreunden die Kinnlade herunterfahren läßt, so steil fallen die sich eng gegenüberliegenden und sporadisch bewachsenen Felswände ins Tal hinunter.

„Wenn du darunter willst, mußt du bis nach Praia Grande fahren. Das liegt im Nachbarstaat, 50 Kilometer“, erzählt Julio, als wolle er die Dimensionen des Canyons mit Zahlen greifbar machen. Der ist zwar nur sieben Kilometer lang, durch seine Verwinkelungen aber kaum einzuschätzen – bei Regen sogar völlig unberechenbar. Wenn die Regenmassen in den engen Canyon prasseln, wird der kleine Gebirgsbach im Tal zur tödlichen Flut. Die Geier, die mit weitausgestreckten Flügeln über dem Canyon kreisen, scheinen auf nichts anderes zu warten. Ein Geierpärchen scheint die Idee schon aufgegeben zu haben: Die beiden Vögel haben es sich auf einem Geländersims gemütlich gemacht.

Es ist vor allem die beinahe vollkommene Einsamkeit, die die Canyons der Serra Gaúcha über das landschaftliche Panorama hinaus so beeindruckend macht. Canyons nämlich verorten die meisten Brasilien-Reisenden in der Chapada Diamantina im Nordosten Brasiliens. Kaum ein Reiseveranstalter, der nicht mit der imposanten Gebirgskette im Bundesstaat Bahia wirbt. So sehr, daß die Serra Gaúcha, das „Gaucho-Gebirge“ im Südstaat Rio Grande do Sul, selbst vielen Brasilianern unbekannt ist. Das ist bedauerlich für die zahlreichen Pousadas, das brasilianische Zwischenstück von Herberge und Hotel, die zwischen den Wintermonaten Juni bis August und den sommerlichen Weihnachtsferien teils tagelang ohne Gäste auskommen müssen.

„Hier war seit Wochen niemand mehr“, seufzt Julio am Abend in die geöffnete Bierdose. Seine Familienpousada ist abseits der Hauptsaison ein ganz normales Wohnhaus, in dem der Brasilianer mit seiner Frau vor dem Fernseher sitzt. Man fühlt unweigerlich mit, was die Umsatzeinbußen der herzlichen brasilianischen Eheleute anbelangt.

Doch jedem Besucher, der dem Erlebnis eines Canyons „ganz für sich alleine“ nahe kommen will, kann der Geheimtippstatus der Serra nur gelegen kommen. „Du hast hier manchmal einen Canyon für dich allein“, schwärmt Julio und kann Cambarás Einsamkeit gleich einen weiteren Vorteil abgewinnen: eisgekühltes brasilianisches Dosenbier und Fernsehen, ohne daß jemand stört, wie er grinsend zugeben muß.

Heute abend ist schon nach ein paar Runden Schluß, denn am nächsten Morgen soll es früh rausgehen. Der noch viel gewaltigere Canyon Fortaleza, zwanzig Kilometer von Cambará entfernt, hat wenig Geduld mit seinen wenigen Besuchern.

Seine breite Felsschlucht ist für gewöhnlich bereits vor Mittag von Wolken durchzogen, das eigentlich nahe gelegene Meer eine seltene Sichtung. Cambarás zweiter Nationalpark kennt nicht einmal eine Parkverwaltung und ist völlig menschenleer.

Direkt am Rand des noch deutlich tiefer abfallenden Fortaleza weidet eine Herde von Rindern. Zu reichen scheint das kahle Gras nicht für die ganze Herde. Die wildlebenden Tiere sehen mager, fast unterernährt aus. Es scheint so einsam, daß sich nicht einmal die Rinderzüchter her verirren. Die also, die auch beruflich Gauchos sind.

Foto: Landleben in Cambará do Sul: Von Deutschlands „Gaucho“-Skandal rund um die siegestrunkene Nationalmannschaft haben die Viehtreiber im Süden Brasiliens nichts mitbekommen

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