© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Nachlaßverwalter eines Unrechtsstaates
Geschichtspolitik: Auch ein Vierteljahrhundert nach Ende des SED-Regimes ist das Interesse an den Stasi-Akten ungebrochen
Ekkehard Schultz

Alles begann im November 1989. Kaum war die Berliner Mauer gefallen, begannen die einstigen Verantwortlichen bereits damit, ihre Vergangenheit zu entsorgen, um sich in nicht wenigen Fällen selbst als Teil der „Erneuerungsbewegung“ gerieren zu können. Über Nacht sollte belastendes Material in Form der über 180 Kilometer angesammelten Akten des DDR-Staatssicherheitsdienstes (MfS) vernichtet werden.

Doch engagierte Bürger ließen sich nicht beirren. Sie blockierten und besetzten schließlich die einstigen Bezirks- und Kreisverwaltungen – und am Ende auch die Berliner Stasi-Zentrale. Dies war der Startschuß für die Gründung einer Institution, deren Hauptaufgabe in der Verwaltung und Sichtung der Akten sowie in der Gewährung einer persönlichen Einsichtnahme durch die betroffenen Bürger besteht – der Behörde des Bundesbeauftragten für die Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU).

Mittlerweile hat die BStU, die seit 2011 von dem ehemaligen Bürgerrechtler Roland Jahn geleitet wird, ihren 12. Tätigkeitsbericht vorgelegt. Dabei zeigt sich, daß entgegen anfänglicher Prognosen das Interesse an der Akteneinsicht auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der SED-Herrschaft ungebrochen ist. So wurden 2013 64.246 und 2014 67.763 Anfragen an die BStU gerichtet. Davon waren 2013 38.869 Erstanträge, 2014 lag deren Anzahl mit 40.994 sogar noch höher. Allein diese Zahlen sieht Behördenchef Jahn als ein klares Zeichen dafür, daß nach wie vor eine „sehr hohe Nachfrage nach Aufklärung“ besteht.

Ebenfalls ungebrochen ist das Interesse von Besuchern, die sich über die Arbeit der BStU und den Aufbau ihrer Archive vor Ort ein eigenes Bild verschaffen wollen. Aufgrund der hohen Nachfrage wurde seit 2013 die sogenannte „Stasi-Mediathek“ entwickelt. Diese richtet sich an eine digital orientierte Zielgruppe und dient als niedrigschwelliges Schaufenster in das Archiv.

Hinzu kommen zahlreiche Vorträge von Mitarbeitern der Jahn-Behörde im gesamten Bundesgebiet, die Entwicklung von Internetangeboten für die politische Bildung sowie Lehrerfortbildungen und die Konzeption von Wanderausstellungen, die auch im europäischen Ausland gezeigt wurden. Gerade auf diese Weise möchte die Behörde verdeutlichen, daß weder die Tätigkeit des ehemaligen DDR-Geheimdienstes noch deren langfristige Auswirkungen auf den Berliner oder den mitteldeutschen Raum beschränkt waren. Vielmehr sei es eine gesamtdeutsche Aufgabe, sich dieser Thematik und den damit verbundenen Fragen zu stellen, so Jahn. Um diesen Prozeß noch weiter zu fördern, wurden etwa Publikationen erstellt, deren Autoren sich der Tätigkeit des MfS in einzelnen westlichen Bundesländern widmen.

In diesem Zusammenhang liegt der BStU besonders daran, die nachwachsenden Generationen, die über keine persönliche Beziehung zur DDR mehr verfügen, für dieses Thema zu interessieren und zu sensibilisieren. Da es gerade für junge Menschen „besonders hilfreich“ sei, „den Zugang zur Geschichte über historische Orte zu finden“, setzt sich die BStU dafür ein, das Gelände an der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg zu einem Lernort für Demokratie, den sogenannten „Campus für Demokratie“ umzugestalten. Dieser Ort sei „in besonderer Weise“ dazu geeignet, „die gesellschaftliche Dynamik zwischen Diktatur und Demokratie zu reflektieren“.

Daß Behördenchef Jahn selbst auch weiterhin deutlich über die Grenzen seiner Behörde hinaus denkt, machte er erst im Herbst des vergangenen Jahres mit der Veröffentlichung des Buches „Wir Angepaßten. Überleben in der DDR“ deutlich. Darin hinterfragt er nicht nur seine persönliche Verantwortung in der Diktatur, sondern zeigt auch, daß erst der erweiterte Blick auf die Verhältnisse vor 1989 eine gerechte Beurteilung des Handelns von Menschen erlaubt.

In diesem Sinne stellen für Jahn auch die Stasi-Akten nur „einen einzelnen Baustein“ dar. Wer aber als Täter handelte, der müsse mit klarem Namen genannt werden dürfen, betonte Jahn beim Treffen der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Ende März. Historische Aufarbeitung und eine strafrechtliche Verfolgung seien dagegen „unterschiedliche Dinge“. aber kein Grund zur Sorge: „Ich werde mich nicht ändern.“

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