© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Furcht vor dem Exodus
Massenmigration: Spanien und Italien warnen vor unhaltbaren Zuständen und drängen auf Lösungen
Michael Ludwig

Ein Blick auf die Landkarte sollte in allen europäischen Ländern die Alarmglocken läuten lassen“, schrieb die spanische Tageszeitung ABC, um dann jenes grausame Video heraufzubeschwören, das die Kämpfer des Islamischen Staates zeigt, wie sie 21 Kopten die Kehle durchschneiden: „Nicht umsonst haben die Täter ihre Opfer nicht in die Wüste, sondern an die Mittelmeerküste geführt, die wir mit den arabischen Völkern in Nordafrika teilen. Der Mord an den ägyptischen Christen sollte als das interpretiert werden, was er darstellt: eine direkte Bedrohung Europas, der Versuch einer Einschüchterung.“

Ringen um die richtige EU-Migrationspolitik

Doch wie soll Europa auf die wachsende Gefahr durch gewaltbereite Islamisten reagieren? Ist es im Besitz einer effizienten Strategie, die dazu in der Lage ist, das Schlimmste zu verhindern? Auf Drängen der spanischen Regierung soll sie mit Hilfe einer EU-Außenministerkonferenz, die am 13. April in Barcelona stattfinden wird, entwickelt werden. Die weitreichende Bedeutung, die dem Treffen zugemessen wird, läßt sich auch daran ablesen, daß außer der EU-Außenbeauftragten Federica Mo-gherini ranghohe Diplomaten aus Algerien, Marokko, Libyen, Tunesien, Israel, Palästina, dem Libanon, Jordanien und Ägypten eingeladen sind.

Neben Spanien sorgt sich vor allem Italien um seine innere Sicherheit. Allein im vergangenen Jahr sind 170.000 Bootsflüchtlinge dort gestrandet, und die Wahrscheinlichkeit, daß es in diesem Jahr noch sehr viel mehr werden, ist groß. Viele tauchen nach ihrer Ankunft unter, um in Richtung Norden weiterzureisen, unter ihnen verstecken sich gefährliche Extremisten. Beunruhigend ist auch, daß offiziellen Angaben zufolge rund 3.700 minderjährige Flüchtlinge aus den Auffanglagern spurlos verschwanden. Oftmals landen sie in den Händen krimineller Banden, die sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten oder zur Prostitution zwingen. Terroristen finden hier eine ergiebige Rekrutierungsbasis für Kämpfer und Selbstmordattentäter.

Im italienischen Fernsehen trat kürzlich der Sprecher des Fischereiverbandes auf der Insel Lampedusa, Toto Martello, vor die Kameras. Sie liegt nur 300 Kilometer vor dem arabischen Festland. Vor diesem Hintergrund gewinnt seine Aussage besondere Glaubwürdigkeit: „Niemand ist sich darüber klar, daß wir den Krieg im eigenen Haus haben.“

Martello weiß, wovon er spricht. Hundert Seemeilen südlich von Lampedusa rettete die Küstenwache rund 2.100 Migranten. Als das Polizeiboot die letzten Flüchtlinge an Bord genommen hatte, schossen die Schleuser von anderen Booten aus mit Maschinenpistolen auf die Retter – sie wollten ihre Schiffe zurückhaben, um sie erneut einsetzen zu können. Das gab es noch nie. Nach Angaben italienischer Behörden ist das Geschäft mit den Bootsflüchtlingen zwischenzeitlich fest in den Händen der Dschihadisten.

Noch gelingt es den Geheimdiensten und der Polizei, die Lage innerhalb des Landes unter Kontrolle zu halten. Als besonders anschlagsgefährdet gilt Rom – und hier, seines symbolischen Gehaltes wegen, vor allem der Vatikan, aber auch das jüdische Viertel in der Altstadt. Mit blankem Entsetzen blickt Diego Parente, Chef der für die Terrorbekämpfung zuständigen Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali (Digos), in die Zukunft, sollten sich in Libyen die Flüchtlingsströme in Bewegung setzen. Rund 200.000 Menschen befänden sich dort in Auffanglagern, weitere 400.000 könnten kurzfristig hinzukommen. Italiens Innenminister Angelino Alfano brachte die dramatische Situation auf den Punkt: „Wir riskieren einen beispiellosen Exodus. Die Milizen des Kalifats rücken derzeit schneller vor, als auf internationaler Ebene Entscheidungen gefällt werden.“

Aber auch vor den spanischen Besitzungen in Marokko, Ceuta und Melilla, warten Zehntausende Migranten aus dem südlichen Afrika, um die sechs Meter hohen Absperrungszäune zu überwinden und so nach Europa zu kommen – allein vor Melilla sollen es nach Angaben des spanischen Innenministeriums 40.000 sein, weitere 50.000 stehen in den Ländern südlich der Sahelzone bereit, um sich auf den Weg nach Norden zu machen.

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