© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Linksextremisten fordern Erdogan heraus
Türkei: Nach tödlicher Geiselnahme und Angriffen auf Partei- und Polizeizentralen reagiert der Staat mit Härte
Ali Özkök

Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu machte keinen Hehl daraus, daß er die Aktionen der linksextremistischen „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) als „Angriff auf die türkische Justiz, Demokratie und die gesamten Bürger“ der Türkei wertet. Angaben der Nachrichtenagentur TRT zufolge rief er zudem die Gesellschaft zur „Gefaßtheit und Solidarität“ auf.

Zwei Monate vor der Parlamentswahl, bei der die regierende islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungsparte AKP um die Zweidrittelmehrheit kämpft, die weitreichende Verfassungsänderungen garantieren soll, sorgten der landesweite Stromausfall, die Geiselnahme des Staatsanwalts Mehmet Selim Kiraz, der Angriff auf ein AKP-Parteibüro sowie der Sturm auf die Polizeizentrale, bei dem eine Attentäterin getötet wurde, für Aufregung.

Zwei DHKP-C-Aktivisten waren am vergangenen Dienstag in das Gerichtsgebäude des Istanbuler Bezirks Çağlayan eingedrungen und hatten den Staatsanwalt als Geisel genommen. Der öffentliche Ankläger ermittelte im Todesfall des 15jährigen Berkin Elvan, der im Sommer 2013 am Rande der Gezi-Park-Proteste mutmaßlich von einem Tränengaskanister der Polizei getroffen worden war und nach mehreren Monaten im Koma starb. Die Eltern des Jungen gaben an, dieser habe lediglich das Haus verlassen, um für die Familie Brot holen zu gehen. In Polizeikreisen wird hingegen behauptet, Elvan habe sich an gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Sicherheitskräfte beteiligt.

Die Linksextremisten nahmen in einer auf der Plattform Halkın Sesi (Stimme des Volkes) verbreiteten Erklärung Bezug auf den Fall Elvan. Demnach sollten die Polizisten, die „Berkin Elvan ermordeten, ihre Verbrechen in einer Livesendung gestehen“ und sich vor „Volksgerichten“ verantworten. Am Abend stürmten Sondereinheiten das Gerichtsgebäude. Die Geiselnehmer wurden dabei getötet und Staatsanwalt Kiraz so schwer verletzt, daß er noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan brach darauf seinen Staatsbesuch in Rumänien vorzeitig ab und erklärte, daß die Türkei ihren „Kampf gegen den Terrorismus entschlossen“ weiterverfolgen werde. Erst vor wenigen Wochen hatte das türkische Parlament einer Verschärfung der Sicherheitsgesetze zugestimmt.

Angesichts der Bedrohungslage machten die türkischen Sicherheitsbehörden von ihren erweiterten Vollmachten Gebrauch. Bereits in der Nacht zu Mittwoch kam es in Eskişehir, Antalya und İzmir zu Razzien, bei denen Dutzende mutmaßliche DHKP-C-Anhänger festgenommen wurden. Eine Woche später meldete TRT: „Planer des Attentats auf Kiraz in Italien gefaßt“. Dabei handele es sich um einen mit internationalem Haftbefehl gesuchten türkischen DHKP-C-Aktivisten mit österreichischem Paß.

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