© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Gesamtkunstwerk zwischen Zeitlosigkeit und Modernität
Versöhnung von Mensch und Zivilisation: Eine Ausstellung in Stuttgart gibt Einblicke in das Schaffen des Malers und Bildhauers Oskar Schlemmer
Felix Dirsch

Die Künstler der klassischen Moderne – gemeint ist der Zeitraum von etwa 1900 bis 1930 – haben in Deutschland nie eine richtige Heimstatt gefunden. Einer der Gründe dafür liegt wohl in der Verfemung dieser Richtung in der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937, aber auch in der Tatsache, daß der Geschmack eines breiteren Publikums von den Protagonisten oft verfehlt wurde.

Oskar Schlemmer (1888–1943), einer der führenden Vertreter der Strömung, versuchte als zeitweiliger Mitarbeiter des Bauhauses seine vielfältigen Vorstellungen von Modernität umzusetzen. Die enorme Spannweite wird in der Staatsgalerie Stuttgart auf zwei Stockwerken deutlich. Das Erdgeschoß präsentiert die Malerei des Künstlers, das obere Stockwerk stellt den Choreographen und Bühnenbildner in den Mittelpunkt.

Als Schwerpunkt seines Wirkens betrachtete er den Versuch, Technik und Kunst, Mensch und Zivilisation sowie Körper und Geist zu versöhnen.

Gegenüber dem Eingang des unteren Stockwerks befindet sich der Höhepunkt des malerischen Œuvre und wohl auch der gesamten Ausstellung: die berühmte „Bauhaustreppe“, die mittels umfangreicher Skizzen vorbereitet wurde. Das Bild gilt als wichtiger Bestandteil moderner Ikonographie. Das Museum of Modern Art, in dessen Besitz es sich befindet, leiht das Meisterwerk nur selten aus. Um so erfreulicher ist es, daß die Organisatoren der Großen Landesausstellung Baden-Württembergs einen derartigen Schatz vorweisen können. „Bauhaustreppe“ vermittelt einen prägnanten Eindruck vom kühl-puristischen Funktionalismus, der das Projekt der klassischen Moderne maßgeblich prägte. Als das Werk 1932 entstand, war Schlemmer bereits Lehrer an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau. Schlemmer haben Räume, Geländer und Flächen stets interessiert, so auch in der Darstellung „Fünf Männer im Raum“, die zwei bekleidete und drei nackte Männer zeigt.

Andere Artefakte sind ebenfalls charakteristisch. Exemplarisch sei „Paracelsus“ genannt, der den für Schlemmers Porträts wesentlichen Gesichtsausdruck trägt. Dieses Sujet hatte der Maler nicht zuletzt deshalb gewählt, weil der humanistische Geist des großen Gelehrten an der Zeitenwende für ihn wegweisende Bedeutung besaß. Viele Figuren repräsentieren den utopischen Grundzug der Epoche, der in den 1920er Jahren allenthalben zu spüren war. Das Alte und Morsche, die Monarchie, so war öfter zu hören, ist zusammengebrochen. Die Republik folgte. Konnte ein so einschneidender Wandel Bestand haben, wenn der Mensch der gleiche blieb?

Schlemmer machte sich daran, den „Neuen Menschen“ zu kreieren. Dafür steht „Groteske II“ ebenso wie die glänzend-metallisch wirkenden Körper in „Eingang zum Stadion“, die in den 1930er Jahren entstanden, als der „Neue Mensch“ mehr in der Politik als in der Kunst – wie destruktiv auch immer – Konturen anzunehmen begann.

Aus der Fülle an Sehenswertem ist weiterhin die „Ornamentale Plastik“ hervorzuheben, ein Relief mit einem komplexen Gefüge an Kreissegmenten mit geraden und gebogenen Elementen sowie konvexen und konkaven Formen. Der Reichtum eines solchen Gebildes ist mittels einer Beschreibung nicht auszuschöpfen.

Er mußte bittere politische Erfahrungen machen

In den 1920er Jahren zog es Schlemmer zu Ballett und Theater hin. Grundlegende Einblicke werden im ersten Stockwerk geboten. Bereits früh entwickelte Schlemmer das „Triadische Ballett“. Hier findet sich eine verblüffende Verbindung von Malerei, Plastik, Raumgestaltung, Sprache, Musik, Tanz und Bewegung. Filmische Szenen, von Wandbildschirmen präsentiert, zeigen die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, die das Multitalent nutzte. Besonders die von ihm entworfenen raumplastischen Kostüme sind einer genaueren Betrachtung wert. In der frühen Zeit trat er sogar selbst als Tänzer auf. Die fast lebensgroßen Figuren, die er modellierte und die zu den Höhepunkten dieses Teils der Ausstellung zählen, vermitteln vielleicht noch mehr als manche Bilder einen Eindruck von dem utopischen Geist des Zeitalters.

Die Ausstellung spart die bitteren politischen Erfahrungen, die Schlemmer zum Teil bereits vor 1933 machen mußte, und erst recht danach, nicht aus. In einem Nebenraum liegen wichtige Dokumente aus, denen die Rechtfertigungsversuche des mehr und mehr Angefeindeten zu entnehmen sind. Die Korrespondenz mit politisch Verantwortlichen im Dritten Reich verweist darauf, daß er schon zu Zeiten seiner Mitarbeit im Bauhaus aufgrund seines figurativen Stils von Kommunisten als konservativ kritisiert wurde. Schlemmer bezeichnete sich in den Briefen als nationaler wie christlich ausgerichteter Künstler. Das ist nicht nur als Anbiederung an die Machthaber zu verstehen.

Schlemmers früher Tod hängt nicht zuletzt mit der Ausgrenzung nach 1933 zusammen. Einige seiner Bilder prangerte man öffentlich an. Er mußte mit Hilfe bloßer Auftragsarbeiten überleben und kam nicht umhin, zurückgezogen zu schaffen. Seiner (bis heute anhaltenden) Wirkung tut das keinen Abbruch, was auch die erfolgreiche Ausstellung über den großen Sohn der Stadt Stuttgart überdeutlich belegt.

Die Ausstellung „Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt“ ist nur noch bis zum 19. April in der Stuttgarter Staatsgalerie, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Der Katalog mit 300 Seiten und 352 überwiegend farbigen Abbildungen kostet im Museum 29,90 Euro.

www.staatsgalerie.de

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