© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Sonntagsruhe
Die seelische Buckligkeit
Jürgen Liminski

Potsdams Geschäfte öffnen an Sonntagen weniger häufig als von der Stadtregierung gewollt – dank einer Klage der Gewerkschaft Verdi. Und schon laufen die Wirtschaftsgläubigen Sturm mit grundsätzlichen Argumenten. Sicher, es geht nicht nur um Konsum, sondern auch um Arbeitsplätze, und manche Branchen können die Maschinen nicht so ohne weiteres stoppen, Hochöfen dürfen nicht erkalten, und die Freizeit-Industrie etwa hat gerade am Wochenende ihr Leistungshoch. Aber hinter Maschinenlaufzeiten, Arbeitszeitflexibilisierung und Konsumoptionen steht die Frage, ob der Mensch nur ein homo faber sein soll, wie Ernst Jünger schon 1931 in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Der Arbeiter“ vermutet. Das wäre ein später Sieg des Marxismus, eine Verwirtschaftung von Mensch und Gesellschaft.

Der christliche Philosoph Josef Pieper sah in dem „Gesicht des modernen Menschen einen ganz bestimmten Zug, der genau der Überbewertung der Aktivität entspricht. Das ist der Zug der chronischen Angespanntheit. Unsere Großeltern haben so nicht ausgesehen“. Nun sollen wir nicht alle so aussehen wie unsere Großeltern. Aber der Mensch braucht den Schutz des Sonntags, weil er die Muße braucht. Schon die Klassiker und griechischen Philosophen haben sich damit eingehend beschäftigt. Platon etwa hat sich in seinem letzten großen Dialog über die Gesetze die Frage gestellt, ob es denn nicht für den Menschen, von dem er sehr wohl wisse, daß er zur Arbeit und zur Mühe geboren sei, irgendwann einmal eine Atempause gebe. Und auf diese Frage habe er sich selbst geantwortet: Ja, diese Atempause gibt es. Die Atempause sind die von den Göttern gesetzten kultischen Feiertage. Seit der Mensch denken kann, gab es diesen Zusammenhang von Ruhe und religiösem Ritus und Rhythmus.

Die Sonntagsfrage ist also nicht nur eine christliche Angelegenheit. Wie die gesamte christliche Lehre ruht auch sie auf anthropologischen Grundlagen. Das erklärt eingehend auch die Enzyklika Johannes Pauls II. über den „Tag des Herrn“. In Punkt 65 schreibt er: „Der Wechsel zwischen Arbeit und Ruhe, der zur menschlichen Natur gehört, ist von Gott selbst gewollt, wie aus dem Schöpfungsbericht im Buch Genesis hervorgeht: die Ruhe ist etwas Heiliges, sie ist für den Menschen die Voraussetzung, um sich dem manchmal allzu vereinnahmenden Kreislauf der irdischen Verpflichtungen zu entziehen und sich wieder bewußt zu machen, daß alles Gottes Werk ist.“

Das Sonntagsgebot bezieht seine Legitimität und Begründung aus dieser naturhaften Notwendigkeit des Menschen, den inneren Raum seiner Existenz freizuhalten gegen den Ansturm der Arbeitswelt und des Konsums. Augustinus faßte es kurz: „Die Liebe zur Wahrheit drängt zu heiliger Muße.“ Ausnahmen gebe es nur, wenn „die Dringlichkeit der Liebe“ dies verlange. So habe Christus selbst in diesem Sinn Wunder am Sabbat gewirkt.

Der Sonntag hat eine natürliche Ordnungsfunktion. Die Begriffe Arbeit und Ruhe sollten an der Schwelle zu einer Zeit mit neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen neu überdacht werden. Der Mensch droht in einem kulturlosen

Zeitbrei zu versinken.

Ansonsten bleibt das Postulat des Sonntagsgebots nach geistiger Erholung wesentlich und grundsätzlich. Pieper nimmt ein altes russisches Sprichwort zu Hilfe: Arbeit macht nicht reich, sondern buckelig. Es gebe, so erklärt er, „auch eine innere seelische, geistige Buckligkeit“. Denn man könne „auch eingesperrt werden durch den totalitären Arbeitsstaat, dazu braucht man nicht arm zu sein“. Der innere Daseinsraum könne schrumpfen.

Der Sonntag hat eine natürliche Ordnungsfunktion. Die Begriffe Arbeit und Ruhe sollten an der Schwelle zu einer Zeit mit neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen neu überdacht werden. Der Mensch droht in einem kulturlosen Zeitbrei zu versinken, wenn die Verwirtschaftung aller Lebensbereiche auch den Sonntag vereinnahmt, ja in der Müllpresse der Konsumgesellschaft zerstückelt und zermahlt.

Übrigens: Wer regelmäßig den Sonntag achtet und zur Kirche geht, lebt länger. Das geht aus einer Studie der amerikanischen Zeitschrift Demography hervor. Demnach werden Leute, die nicht zur Kirche gehen, im Durchschnitt 75, während Personen, die jeden Sonntag einen Gottesdienst besuchen, immerhin 82 Jahre alt werden. Einen Grund für die längere Lebenserwartung sehen die Wissenschaftler (von drei Universitäten) in der gesünderen Lebensführung bei aktiven religiösen Menschen. Zu dieser gesunden Lebensführung gehört eben auch die Muße am Sonntag.

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, Diplom-Politologe, ist Publizist, Radio-Moderator und war Ressortleiter für Außenpolitik beim Rheinischen Merkur und bei der Welt.

Der Sonntag ist arbeitsfrei. Eigentlich. Die Tendenz geht in eine andere Richtung. Zwar erlaubt das Arbeitszeitgesetz die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen nur in engbegrenzten Ausnahmefällen, so etwa um „erhebliche Schäden zu vermeiden“. Feuerwehr, Polizei, Busfahrer und Schaffner, Krankenschwestern oder Ärzte der Notaufnahme sind an allen Tagen im Dienst, Gastronomiebetriebe werden an Sonntagen verstärkt besucht. Diese per Gesetz geltenden Ausnahmen vom Sonntagsschutz werden von den Bundesländern jedoch nach Ermessen ausgedehnt. Gerade ist die touristisch stark gefragte Landeshauptstadt Potsdam vom Oberverwaltungsgericht Brandenburg in die Schranken gewiesen worden, mehr als die landesweit üblichen sechs verkaufsoffenen Sonntage durchzusetzen. Nach einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln arbeitete 2011 beinahe jeder sechste Erwerbstätige regelmäßig an Sonn- und Feiertagen. Deutschland steht im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern verhältnismäßig strukturkonservativ da. Aber so, wie auf anderen gesellschaftspolitischen Feldern überlieferte Gewißheiten geschleift werden, wird auch am arbeitsfreien Sonntag gesägt. Die Geschäfte sind zu. Die Debatte ist eröffnet. (JF)

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