© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Eine trauernde Witwe im Feindesland
Das tragische Ende des russischen Generals Samsonow im Ersten Weltkrieg. Sein Tod markierte zugleich das Ende einer Epoche
Walter T. Rix

In der Nacht vom 29. auf den 30. August 1914 flüchtete noch während der Schlacht von Tannenberg der Oberkommandierende der 2. russischen Armee, General Alexander Wassiljewitsch Samsonow, mit einer kleinen Gruppe von Stabsoffizieren wie gehetztes Wild durch die Wälder Ostpreußens. Der Verlierer dieser geschichtsträchtigen Schlacht wollte dem sich immer enger zusammenziehenden Einschließungsring der deutschen Truppen entgehen.

Während sich die kleine Gruppe verzweifelt durch den nächtlichen Willenberger Forst etwa 25 Kilometer südlich von Ortelsburg tastete, hatte sich Samsonow unbemerkt von ihr entfernt. Man suchte ihn verzweifelt, und der ihn betreuende Soldat Kuptschik stöberte ihn gegen Morgen schließlich auf. Doch Samsonow schickte ihn mit hartem Befehlston fort.

Der einst so mächtige Heerführer konnte sich infolge seiner Asthmaanfälle kaum noch auf den Beinen halten. Völlig demoralisiert hatte er sich aufgegeben. Bereits während der Flucht überredete man ihn, alles abzulegen, was einer Identifikation hätte dienen können. Er empfand das als unerträgliche Demütigung und behielt deshalb wenigsten einen vom Zaren verliehenen Dolch sowie ein Medaillon mit dem Bildnis seiner Frau. Zudem lag der lange Schatten seines Rivalen, des Führers der Njemen-Armee, Paul Edler von Rennenkampff, wie ein Fluch auf ihm.

Bereits in der Schlacht von Mukden im Russich-Japanischen Krieg 1905 war ihm der baltische Rivale seiner Ansicht nach nicht zu Hilfe gekommen. Fast wäre es damals auf dem Bahnhof von Mukden zwischen den beiden zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen. Und wieder, so meinte Samsonow, hätte es Rennenkampff unterlassen, mit seiner von Norden kommenden Armee den Kessel zwischen Hohenstein-Grünfließ-Willenberg zu sprengen.

Der General wurde als unbekannter Soldat beerdigt

Mehr noch setzte Samsonow jedoch zu, daß er aus fast schon naiver Frömmigkeit heraus sein Versagen als ein Gottesgericht wertete. Er verzweifelte daran, daß er seinem Zaren und Rußland nicht in der erforderlichen Weise hatte dienen können. Alexander Solschenizyn läßt ihn in seinem Werk über die Schlacht von Tannenberg „August 14“ (1972) unmittelbar vor seinem Tode sagen: „Herr! Wenn Du willst, vergib mir und nimm mich zu Dir. Du siehst: nichts anderes konnte ich, und ich kann nicht anders“.

Im Folgenden weichen die Darstellungen voneinander ab. Die einen wollen nur einen Schuß gehört haben. Andere meinen, es habe einen Schußwechsel gegeben. Die Unterscheidung ist nicht unwichtig, denn im einen Falle wäre es Selbstmord, im anderen soldatischer Tod gewesen. Die Deutschen sollten seinen Leichnam später als unbekannten Soldaten im Willenberger Forst beerdigen.

In Sankt Petersburg wiederum wollte man der Ehefrau die Schande nicht mitteilen. Sie erfuhr das ungeklärte Schicksal ihres Mannes aus der Zeitung. Mit der unerschütterlichen Kraft einer liebenden Frau lehnte sie sich gegen diese Nachricht auf und war leidenschaftlich entschlossen, die näheren Umstände zu ergründen. Ihre Unerbittlichkeit ließ sie alle Hindernisse überwinden und etwas zustande bringen, was in einem Krieg eigentlich nicht denkbar ist.

Im Dezember 1914 bemerkte ein deutscher Posten an der Front südlich von Lyck, daß auf russischer Seite eine große weiße Fahne geschwenkt wurde. Die russischen Parlamentäre wollten einen Brief übergeben, der an das Außenministerium in Berlin gerichtet war. Es handelte sich um ein Schreiben des bekannten Duma-Abgeordneten Alexander Gutschkow, 1909 bis 1911 Präsident der Duma und 1915 Vorsitzender des Russischen Roten Kreuzes, in dem dieser darum bat, daß die Ehefrau des Generals Nachforschungen über den Verbleib ihres Mannes insbesondere im Willenberger Waldgelände vornehmen dürfe. Die spanische Botschaft in Berlin wurde als Vermittlerin eingeschaltet. Und schließlich erhielt die Samsonowa die Erlaubnis, mit dem Status einer Rot-Kreuz-Schwester in Begleitung eines deutschen Offiziers sowohl die Gefangenenlager in Ostpreußen als auch das Waldgelände um Willenberg zu durchforschen.

Leiche wurde über die Front nach Rußland überführt

Nach langem vergeblichen Suchen bricht die Samsonowa vor dem Haus einer alten Bäuerin in Groß-Piwnitz unter Weinkrämpfen zusammen. Voller Mitgefühl nimmt die Alte sie in den Arm und rät ihr, im nahe gelegenen Klein-Piwnitz einen letzten Versuch zu unternehmen. Hier hat der Bauer Jedamski zahlreiche russische Gefallene im angrenzenden Wald beerdigt. Die Samsonowa dringt in ihn, ob er irgendwelche Gegenstände zurückbehalten habe, die eine Identifizierung ermöglichen. Der Bauer zögert, denn die Behörden hatten streng darauf geachtet, daß alle persönlichen Habseligkeiten der Gefallenen abgeliefert wurden. Schließlich holt er aus einem Schrank einen Briefumschlag. Darin befindet sich etwas, was nur durch die dem menschlichen Einfluß entzogene Laune des Schicksals zu erklären ist: Es ist das Medaillon mit ihrem Bildnis. Die Umstehenden können die Samsonowa gerade noch auffangen; auch sie sind zutiefst erschüttert.

Nach der Exhumierung trugen die deutschen Behörden dafür Sorge, daß die sterblichen Überreste des Generals in einem Eisenbahnwaggon durch die Front in das feindliche Rußland gelangten. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte eine Abordnung des preußischen Militärs dem feindlichen General sogar ein Ehrengeleit gegeben. Die Vorgänge um den Tod Samsonows waren der verhallende Ausdruck einer Zeit, in der ein derartiges Verhalten fast schon anachronistisch war. Die Achtung vor dem Tode des anderen und der Respekt vor dem niedergerungenen Gegner waren der letzte Versuch, angesichts stürzender Werte einen Rest kultureller Grundsätze zu wahren.

Mit der zunehmenden Ideologisierung ging eine Epoche, in der diese Werte noch möglich waren, abrupt zu Ende. In der stattlichen Familiengruft direkt neben der Kirche des Dorfes Akimowka im Gouvernement Cherson fand der glücklose Heerführer seine letzte Ruhestätte. Er war der Sproß eines ehrwürdigen Geschlechts, das für sich in Anspruch nahm, ruhmreich bereits unter Iwan dem Schrecklichen gegen die Schweden und auch gegen den deutschen Adel im Baltikum gekämpft zu haben.

Doch die Revolution ging über seine Grabstätte und seine gesamten Besitzungen hinweg. Die Samsonowa mußte ins Ausland fliehen. Heute findet sich an der Stelle seines Todes südlich von Willenberg nahe der Försterei Karolinenhof wieder ein Gedenkstein mit einer Tafel, die dem ursprünglichen Exemplar nachgebildet ist. Sein Rivale, Paul Edler von Rennenkampff, der über Güter mit mehr als 44.000 Hektar in Estland verfügte und so erbarmungslos zusammen mit den Kosaken General Alexander Nikolaijewitsch Möller-Sakomelskis 1905 gegen die roten Aufständischen vorgegangen war, quittierte nach der schmählichen russischen Niederlage 1914 in Ostpreußen seinen Dienst und flüchtete in den Revolutionswirren nach Taganrog am Asowschen Meer.

Hier nahm er unter dem Namen Mandusakis die Identität eines griechischen Fischers an. Er wurde jedoch erkannt und sollte gezwungen werden, eine Einheit der Roten Armee im Bürgerkrieg zu führen. Da er sich weigerte, erschossen ihn die Bolschewisten am 1. April 1918.

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