© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Ein Produkt raffinierter Desinformation
Smolensk-Komplex: Der Journalist Jürgen Roth präsentiert Indizien, die auf ein Attentat Moskaus deuten
Christian Rudolf

Der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im westrussischen Smolensk mit 96 Todesopfern am 10. April 2010 gilt offiziell als aufgeklärt. Schließlich haben russische und polnische Kommissionen ihre Abschlußberichte vorgelegt. Ein halsbrecherischer Landeanflug in dichtem Nebel, Fehler unter Zeitdruck gesetzter Piloten, ein betrunkener Luftwaffengeneral im Cockpit, überforderte Fluglotsen im Tower, typisch slawische Schlamperei. Diese Version der schrecklichen Ereignisse, die Polen seiner konservativen, antikommunistischen Elite beraubte und zu einem nationalen Trauma geworden ist, hat sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit durchgesetzt. Flugzeug­unglücke geschehen nun mal. Schulterzucken.

Doch keiner der genannten Gründe hält unvoreingenommener Untersuchung stand. Sie entpuppen sich als ein Produkt raffinierter russischer Desinformation, die von der polnischen Regierung übernommen wurde. Daran läßt die kleinteilige Arbeit des Investivjournalisten Jürgen Roth wenig Zweifel. Als erster deutscher Autor präsentiert Roth einen mehr als soliden Überblick über den Forschungsstand zum Smolensk-Komplex. Er präsentiert säckeweise Indizien, die nahelegen, daß Flugkapitän Arkadiusz Protasiuk an jenem Vormittag mitnichten mit einer Birke kollidierte und die Kontrolle über die Tu-154M verlor. Daß er den Landeanflug abbrach, aber das Durchstarten nicht mehr gelang, weil Explosionen in den Tragflächen und im Rumpf die Maschine in Zehntausende Einzelteile zerrissen (JF 8/13).

Roth zieht den Vorhang auf und gibt den Blick auf ein Panorama frei, von dem man wünschte, es wäre ein schlechter Agententhriller. Eine geheimnisvolle, tonnenschwere Zuladung in den Frachtraum der Tupolew am Vorabend des Abfluges, die unkontrolliert blieb. Eine polnische Regierung, die die Ermittlungen unter Mißachtung zwischenstaatlicher Abkommen in russische Hände gibt und sich einer internationalen Untersuchung beharrlich widersetzt. Staatsanwälte, die sich wie Deppen austricksen lassen und elementare Sorgfaltspflichten der Beweis-erhebung verletzen. Die eine polnische Obduktion der Leichen verbieten. Öffentlich lügende Minister, die russische Machenschaften decken. Eine Militärstaatsanwaltschaft, Relikt aus kommunistischer Zeit, die Ermittlungen mehr behindert als befördert. Die Dutzende russische Zeugen, die gehört und gesehen haben wollen, wie die Maschine noch in der Luft explodierte, einfach nicht vorlädt. Eine regierungsamtliche Kommission, die einen Abschlußbericht vorlegt, ohne über das zentrale Beweismittel, die Flugschreiber, im Original zu verfügen. Ein Parlamentspräsident, der auf Grundlage unbestätigter Meldungen über den Tod des Staatsoberhaupts dessen Amtsgeschäfte staatsstreichartig an sich reißt und noch vor dem Fund der Leiche aus dessen Tresor ihn mutmaßlich kompromittierende Dokumente über Verbindungen zum Militärgeheimdienst WSI, einem verlängerten Arm russischer Dienste, beiseite schafft; derselbe Bronislaw Komorowski will kommenden Monat im Amt bestätigt werden.

Das alles ist für Kenner der Materie zwar nicht neu, aber war in deutscher Sprache, zumal in dieser Dichte, nicht aufbereitet. Neu ist eine angebliche Depesche des BND, die Roth kennen will. Danach gehe der vermeintliche Absturz auf ein Sprengstoffattentat des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB zurück. In polnischen Medien behauptet Roth, den vollen Namen des Auftraggebers zu kennen: ein seinerzeit hochrangiges Mitglied der polnischen Regierung. Nur werde er den Namen nicht nennen. Weil Roth die einzige Quelle für diese Behauptung ist, gehört dieser Part neben der etwas zusammengestöpselt wirkenden Einbettung des Smolensk-Komplexes in den Kontext des Ukraine-Krieges zu den wenigen schwachen Stellen des Buches.

Jürgen Roth: Verschlußakte S. Smolensk, MH 17 und Putins Krieg in der Ukraine. Econ-Verlag, Berlin 2015, gebunden, 317 Seiten, 19,99 Euro