© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

„Die Mauer sollten sie beseitigen!“
Die Sowjetunion und die Wiedervereinigung: Ein Dokumentenband präsentiert bemerkenswerte Stellungnahmen von 1989 aus dem Kreml
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Zweifellos glauben die Beobachter westlich des Eisernen Vorhangs viel über den damaligen Zerfall der DDR und der Systeme Osteuropas zu wissen, doch was in jenen Jahren in Moskau intern geschah, konnte man bisher nur aus Bruchstücken erfahren. Das federführend von Stefan Karner, dem Vorsitzenden der Österreichisch-Russischen Historikerkommission, und dem Historiker Mark Kramer (Universität Harvard) herausgegebene Buch ist die erstmals publizierte Bestandsaufnahme der Haltung der Kreml-Führung. Es stellt das Ergebnis eines über Jahre laufenden Kooperationsprojekts der Harvard-Universität, wichtiger russischer Staatsstellen und besonders des Archivs des ZK der KPdSU dar, die bereits im Oktober 2014 auf einer Tagung in Wien erörtert wurden. Dabei zeigen 99 äußerst interessante Dokumente sowjetischen Ursprungs in chronologischer Reihenfolge das allmähliche Ende des kommunistischen Weltreichs.

DDR ist ohne Hilfe „nicht über Wasser zu halten“

Es begann eigentlich bereits 1986, als Gorbatschow ein Jahr nach seinem Machtantritt jeder Wiederholung jeglicher Intervention in Ungarn oder der CSSR widersprach. Auf der Politbüro-Sitzung erklärte er erneut „die Wirtschaft zur wichtigsten Aufgabe der Politik“. Manche wollen darin den Beginn der Entmilitarisierung im Denken des Kreml sehen. Tatsache ist, daß der Generalsekretär bereits ein Jahr später für Abrüstung plädierte und statt der bisherigen Offensivdoktrin jetzt für eine defensive Militärdoktrin stimmte. Angesichts der ökonomischen Lage der UdSSR, die „dem Westen um 20 Jahre hinterherhinkte“, wurde im Frühjahr 1989 die Überwindung der Wirtschaftskrise zum Primat der Politik. Nach einem Bericht Eduard Schewardnadses an ihn solle bei inneren Unruhen in Osteuropa keine Militäraktion erfolgen, ein Eingreifen werde es nur noch bei „Bedrohung von außen“ geben.

Da sowjetische Finanzhilfen an Warschau nicht mehr möglich waren, empfahl Moskau, jede Konfrontation mit der Gewerkschaft Solidarno´s´c zu vermeiden und akzeptierte damit den politischen Pluralismus in Polen. Am 3. November 1989 meinte Gorbatschow im Politbüro, „ohne Hilfe der BRD werden wir die DDR sowieso nicht über Wasser halten können“.

Schewardnadses Antwort war überdeutlich: „Die Mauer sollten sie beseitigen!“ Man wußte, Ost-Berlin konnte seine Verschuldung nicht stoppen, bald würde die DDR faktisch unregierbar sein. Bei Bitten um weitere Kredite verwies Moskau nur auf Bonn. Auf die Frage wortführender SED-Genossen, „wie weit die Bereitschaft der UdSSR gehe, der DDR in allen Notfällen zu helfen“, mußten sie am 10. Oktober (einen Tag nach der bahnbrechenden Leipziger Demonstration) von einem hohen ZK-Mitglied der KPdSU hören, es „würde sich niemand finden, der ein militärisches Machtwort befürworten würde“.

Der Fall der Berliner Mauer wird im Buch als „Todesstoß für die DDR“ kommentiert. In der Bundesrepublik glaubten Politiker wie Egon Bahr in der Lage jedoch keine Chance für eine baldige Wiedervereinigung zu erkennen. Gleiches galt selbst für Helmut Kohls Berater Horst Teltschik. Dieser zeigte sich später überrascht, wie weit die Überlegungen Moskaus zur deutschen Einheit vorangeschritten waren – „weiter, als wir es uns bislang vorstellen konnten“. Das Buch ist ein Muß für jeden historisch Interessierten.

Stefan Karner, Mark Kramer (Hrsg.): Der Kreml und die „Wende“ 1989. Studien-Verlag, Innsbruck 2014, gebunden, 708 Seiten, 39,90 Euro