© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Die zweite Welle
Einwanderung: Dank einer Gesetzesänderung kommen erstmals seit Jahren wieder mehr deutschstämmige Aussiedler mit ihren Familien in die Bundesrepublik
Elena Hickman

In der Schule wurde er beschimpft: „Scheiß Russe, geh doch zurück nach Rußland.“ Für Sergej Nowak eine schwierige Situation: „Da fühlt man sich natürlich nicht so angenommen“, sagt er. Mit sechs Jahren kam er 1990 mit seiner Familie nach Deutschland, als sogenannter „Rußlanddeutscher“. Sein Großvater überlebte nicht nur das Strafgefangenenlager, sondern auch die Schande, in seinem Paß die Worte „Feind des Staates“ vermerkt zu haben.

Als Sergej nach Deutschland kam, sprach er kaum Deutsch. Doch er lernte es schnell und arbeitet heute erfolgreich als Diplomingenieur. Ihm fiel es nicht so schwer, sich in Deutschland zu integrieren, weil er die Geschichte seiner Vorfahren kannte: „Man muß eben wissen, was man für eine Vergangenheit hat. Daß man tatsächlich Deutscher ist.“

Spätaussiedler sind eine der größten Einwanderungsgruppen in Deutschland – werden in der Diskussion um Integration jedoch kaum noch beachtet. Dabei ist ihre Zahl in den vergangenen Jahren wieder leicht angestiegen. Grund dafür sei eine Gesetzesänderung von 2013, sagt der Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk, und ergänzt: „Ich betrachte die Integration der Aussiedler in die Gesellschaft der Bundesrepublik insgesamt als eine Erfolgsgeschichte.“

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kamen zwischen 1950 und 2015 rund 4,5 Millionen Aus- und Spätaussiedler nach Deutschland ­– also Menschen mit deutscher Herkunft, hauptsächlich aus den ehemaligen Ostgebieten, Ost- und Südosteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Aufgrund ihrer deutschen Abstammung litten sie unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs und wurden selbst Jahrzehnte später noch massiv verfolgt. Konrad Adenauer bot ihnen daher bereits 1953 durch das Bundesvertriebenengesetz an, mit ihren Familien in die Bundesrepublik überzusiedeln. Dabei war 1990 ein Höhepunkt, mit 397.073 Einreisenden. Ab 1993 wanderten die meisten Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein, „Rußlanddeutsche“ wurden sie genannt. Dabei kamen die meisten aus Kasachstan, wohin sie unter Stalin verbannt worden waren.

Vergleichsweise gute Startbedingungen

In den vergangenen zehn Jahren hatte die Zahl der Spätaussiedler immer abgenommen und erreichte 2012 ihren tiefsten Stand seit 1950 mit 1.817 Zuwanderern. Ein Grund dafür waren die verschärften Einreisebedingungen für Ehepartner und Kinder von Spätaussiedlern. Dadurch erhöhte sich das Durchschnittsalter zwischen 1989 und 2009 von 24 auf 46 Jahre und machte Spätaussiedler damit zur „ältesten“ Einwanderergruppe in Deutschland.

Wenn auch auf niedrigem Niveau, so haben sich die Zahlen von 2013 (2.427) auf 2014 (5.649) fast verdoppelt. Das ist den durch die Gesetzesänderung 2013 vereinfachten Einreisebedingungen für Spätaussiedler zu verdanken. „Die Entwicklung der Zahlen der Anträge auf Aufnahme und der im vertriebenenrechtlichen Verfahren Aufgenommenen zeigt, daß wir den richtigen Weg beschritten haben“, bekräftigt Koschyk. Für Ehepartner und Kinder reicht jetzt der Nachweis von einfachen deutschen Sprachkenntnissen ­– die auch nicht mehr durch die Familie vermittelt worden sein müssen. Minderjährige sind von dieser Nachweispflicht grundsätzlich ausgeschlossen. Außerdem muß der Antragsteller sich in einem einfachen Schreiben zum deutschen Volkstum bekennen.

Spätaussiedler haben im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen gute Startbedingungen in Deutschland. Sie sprechen häufig schon etwas Deutsch und bekommen relativ schnell einen deutschen Paß. Allerdings sind sie grundsätzlich politisch nicht so aktiv wie andere Zuwanderergruppen. Wenn sie wählen, tendieren sie eher zu konservativen und christlichen Parteien. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt behaupten sie sich dagegen gut, was zu einer verhältnismäßig geringen Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe führt. Dabei arbeiten Aus- und Spätaussiedler vor allem als (Fach-)Arbeiter im produzierenden Gewerbe.

Jedoch stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einem Forschungsbericht 2013 fest, daß besonders jungen Spätaussiedlern die Integration schwerfällt. Sie haben größere Schwierigkeiten eine Arbeit zu finden und fühlen sich trotz ihres deutschen Passes nicht komplett als Deutsche. Die starke familiäre Bindung führt auch dazu, daß sich viele Spätaussiedler an einem Ort aufhalten und dadurch eine Art Parallelgesellschaft aufbauen. Wie etwa im niedersächsischen Cloppenburg, dort stammt inzwischen jeder fünfte Einwohner aus einer Spätaussiedlerfamilie.

Den Mittelweg zwischen vertrauter Parallelgesellschaft und ungewohntem Land findet nicht jeder. Vielen fällt es schwer dazuzugehören, erklärt Sergej Nowak: „In Rußland war man der Deutsche und in Deutschland der Russe.“