© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Der blinde Fleck
Publizistik: Die renommierte Zeitschrift „Foreign Affairs“ widmet sich der Rassenfrage
Karlheinz Weißmann

Der jüngste Fall liegt noch nicht lange zurück: Ein amerikanischer Polizist tötet einen Fliehenden durch vier Schüsse in den Rücken. Was dem Ganzen zusätzliche Brisanz gibt, ist die Tatsache, daß der Polizist weiß, der Getötete schwarz war. Die verantwortlichen Stellen kündigten sofort Konsequenzen an; der Beamte wurde aus dem Dienst entlassen, verhaftet und unter Mordanklage gestellt. Allerdings genügt das kaum, um die Heftigkeit der Auseinandersetzung um den „strukturellen Rassismus“ der amerikanischen Gesellschaft, genauer: ihrer Institutionen, abzuschwächen. Die Erinnerung an einen ähnlichen Vorgang in Charleston ist frisch und auch die Feststellung eines Untersuchungsausschusses, daß es sich nicht um isolierte Abläufe handele, sondern um solche, denen ein bestimmtes Schema zugrunde liege.

Die mit der Präsidentschaft Obamas verknüpfte Idee eines neuen, „postrassistischen“ oder sogar „postrassischen“ Amerika, das wird man feststellen müssen, ist sehr weit von ihrer Umsetzung entfernt. Welche Ursachen das hat, versucht die einflußreiche Zeitschrift Foreign Affairs mit dem Schwerpunkt ihrer neuesten Ausgabe „The Trouble With Race“ (Ausgabe März/April) zu klären.

Blick über die

nationalen Grenzen

Es handelt sich um insgesamt sechs Beiträge, die verschiedene Aspekte der Rassenfrage behandeln, darunter vier, die den Blick über die nationalen Grenzen richten: Der Aufsatz von Graham K. Brown und Arnim Langer untersucht die Wirksamkeit von „Affirmative Action“, also der kalkulierten Bevorzugung rassischer Minderheiten, im globalen Zusammenhang. James L. Gibson thematisiert die langfristigen Folgen der Rassentrennung, der „Apartheid“, in Südafrika. Ein Essay von Deborah J. Yashar beschäftigt sich mit der Bedeutung des Faktors Rasse in Lateinamerika und ein weiterer von Kenan Malik mit dem „Multikulturalismus“ in Europa.

Eines wird an allen diesen Texten deutlich: Keine heterogene Gesellschaft, in der relativ kompakte Gruppen verschiedener ethnischer Herkunft zusammenleben, hat bisher eine Lösung für die spezifischen Konflikte zwischen diesen Gruppen gefunden. Das gilt für die mit großem Enthusiasmus begrüßte „Regenbogennation“ Südafrika genauso wie für die angeblich so toleranten Länder Südamerikas und die von wachsenden Einwandererströmen überwältigten Staaten des alten Europa, die sich darauf verlegt haben, die Unterschiede zu feiern, ohne sie ernst zu nehmen.

Was Südafrika betrifft, ist schon aufschlußreich, daß die größte, also die schwarze Bevölkerungsgruppe des Landes kaum Kontakt zu anderen aufnimmt, und vor allem die ärmeren schwarzen Schichten in mehr oder weniger freiwilliger Isolation leben. Immerhin glaubt Gibson, daß sich ein relativer Fortschritt der Entwicklung abzeichne, da es einen Übergang vom Rassen- zum Klassenkampf gebe, angetrieben von einer neuen schwarzen Mittel- und Oberschicht, die kaum Solidarität gegenüber ihrer Herkunftsgruppe kenne, sondern Ausbeutung unbekümmert um die Hautfarbe praktiziere.

Die Situation ist in Lateinamerika aus historischen Gründen ganz anders. Allerdings weist Yashar mit Recht darauf hin, daß die Vorstellung von einer Art Rassenharmonie in der Vergangenheit nur entstehen konnte, weil in Ländern wie Brasilien eine hauchdünne Elite über einer Masse stand, in der Unterschiede zwischen den Nachkommen der portugiesischen und anderer europäischer Einwanderer, der Indianer und der aus Afrika importierten Sklaven vernachlässigenswert schienen, insofern alle gleich weit vom Zentrum der Macht entfernt waren. Am ausgesprochen „weißen“ Charakter der Führung in Regierung, Militär, Diplomatie, Administration und Wirtschaft hat das bis dato so wenig geändert wie die durch die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff verkündete „rassische Demokratie“.

Immerhin spielen politische Bewegungen, die seit den 1980er Jahren in Bolivien, Ecuador, Guatemala, Mexiko und Peru erfolgreich den „neuen ethnischen Wähler“ mobilisieren, in Brasilien bisher keine Rolle. Der Aufstieg von Parteien, die den Fokus auf die Rassenfrage setzen, muß als Reaktion auf Versuche gedeutet werden, den Indios ihre Identität durch staatliche Erziehungsprogamme auszutreiben. Denen lag eine Variante des in ganz Lateinamerika umlaufenden „Mythos der Einheit“ zugrunde, der im Extremfall eine aus Panmixie hervorgehende neue „kosmische Rasse“ (José Vasconcelos) erhofft. Wenn man jetzt im Süden des großen Doppelkontinents auf Modelle aus dem Norden zurückgreift und „Affirmative Action“ kopiert, wird das am Tatbestand einer sukzessive in ihre ethnischen Bestandteile zerfallenden Gesellschaft wenig ändern.

Brown und Langer kommen in ihrem Beitrag zwar zu dem Ergebnis, daß die Bevorzugung zu einer gewissen Entspannung der Rassenbeziehungen führen könne, daß man aber im Hinblick auf die Erwartungen, die in dieses Konzept gesetzt wurden, desillusioniert sei. Tiefgreifende soziale Veränderungen ließen sich nie kurzfristig oder mit Hilfe irgendwelcher Verwaltungsmaßnahmen durchsetzen. Ausgeblendet würden auch die möglichen Reaktionen der dominierenden Bevölkerungsgruppe, die auf die Infragestellung ihres Status so heftig reagieren kann wie die Hindu-Nationalisten, deren Siegeszug wesentlich auf ein Bedrohungsgefühl zurückzuführen sei, ausgelöst durch die technokratischen Maßnahmen zur Angleichung der Religions- und Volksgruppen Indiens.

Linie zwischen

Weißen und Farbigen

Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa können mit einer Partei wie der indischen Bharatiya Janata Party (BJP) und deren „Safranbrigaden“ kaum in einem Atemzug genannt werden. Aber sie ähneln sich doch insofern, als die einen wie die anderen im Grunde einen defensiven Charakter haben und versuchen, nicht nur bestimmte währungs-, steuer- und ordnungspolitische Ziele zu erreichen, sondern auch die Stellung der „Ureinwohner“ zu verteidigen. Sie wenden sich gleichzeitig gegen das, was Malik in seinem Text den „Mythos der Diversität“ nennt, also die amtliche Propaganda für eine auf Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit verschiedener kultureller „Gemeinschaften“ fußende Konzeption.

Malik sieht die Dysfunktion in Europa sehr deutlich, schlägt aber zwecks Abhilfe auch nur das US-Modell vor, also die Annahme eines Verbandes von freien Individuen, deren zufällige rassische, religiöse, weltanschauliche Zugehörigkeit ohne Bedeutung sei. Eine spezifische Blindheit der Betrachtung, die man gleicherweise an den verbleibenden Aufsätzen zur Rassenfrage in dieser Ausgabe von Foreign Affairs ablesen kann, die sich mit der Situation in den Vereinigten Staaten beschäftigen. Das gilt zuerst für den Beitrag von Frederick C. Harris und Robert C. Lieberman über „Rassische Ungleichheit nach dem Rassismus“.

Die Autoren betonen, daß die seit dem Siegeszug des Civil Rights Movement durchgesetzten Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung von weißen und schwarzen Amerikanern deren soziale Ungleichheit nicht aus der Welt schaffen konnten; eher wird man das Gegenteil feststellen können: Die Segregation an den Public Schools des Landes sei heute faktisch stärker als zu irgendeinem Zeitpunkt nach 1945, dasselbe gelte für die Rassentrennung in bezug auf Wohngebiete oder Arbeitsbereiche. Die Ursache für all das sehen Harris und Lieberman aber ausschließlich in einem „systemischen Problem“ der amerikanischen Gesellschaft, das heißt dem latenten, von der weißen Bevölkerungsgruppe aufrechterhaltenen, wenngleich sorgsam kaschierten „Rassismus“.

Abgesehen von der Tendenz, die Eigenverantwortung der Schwarzen für ihre Lage, sogar in bezug auf Kriminalität, Sexualmoral, Labilität der Familien, Ernährungsgewohnheiten, strikt zu leugnen, fällt auf, daß es in den Ausführungen von Harris und Lieberman im Grunde nur um zwei Rassen geht: Schwarze und Weiße. Nirgends wird der Frage nachgegangen, warum andere, vor allem die Asiaten, Araber oder Hispanics, keine vergleichbaren Probleme haben.

Dieser blinde Fleck ist auch an dem einführenden Text festzustellen. Der Verfasser, Kwame Anthony Appiah, zitiert einleitend W. E. B. Du Bois, der zu den ersten Schwarzen-Führern der USA gehörte. Du Bois äußerte in einer 1900 auf dem „Panafrikanischen Kongreß“ gehaltenen Rede die Überzeugung, daß der Umgang mit der color-line, also der Linie, die die Weißen von den Farbigen trenne, entscheidend für den Verlauf des 20. Jahrhunderts sein werde.

Dieser Einschätzung folgt Appiah und überträgt sie sogar auf seine Prognose für das 21. Jahrhundert. Allerdings gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen seiner Grundannahme und derjenigen Du Bois’: Du Bois ging davon aus, daß das Vorhandensein von Rassen ein Faktum sei, mit dem man sich auseinandersetzen müsse, während Appiah dem westlichen Konsens folgt, Rassen als Fiktionen betrachtet und unbeschadet aller Tatsachen an einem festhalten will: „Es ist keine gute Idee, Biologie in die Diskussion einzuführen.“