© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Pankraz,
F. Nietzsche und die Kosten des Schmerzes

Neues von der tagtäglichen Billionenfront. Nicht nur die Rettung des Euro kostet Billionen, sondern auch der Kampf gegen den Schmerz. Eine wissenschaftliche Studie belehrt uns, daß die sogenannten entwickelten Länder des Westens pro Jahr über eine Billion US-Dollar ausgeben müssen, um die chronischen Schmerzen ihrer Bürger zu lindern oder überhaupt erträglich zu machen, damit verbundene Produktivitätseinbußen und Ausgleichszahlungen für arbeitsunfähige Schmerzpatienten eingeschlossen. Und die einschlägigen Kosten schrauben sich – wie beim Euro – immer höher!

Parallel dazu wird auch die wissenschaftliche und populäre Literatur über den Schmerz und seine individuellen und öffentlichen Folgen immer umfänglicher und unübersichtlicher. Beispiel dafür ist etwa ein soeben im Aschaffenburger Pattloch-Verlag erschienenes Buch mit dem lapidaren Titel „Schmerz“, ein dicker Wälzer von über 600 eng beschriebenen, kaum gegliederten Seiten, dessen Lektüre den Leser nicht nur ziemlich ratlos macht, sondern ihn in zusätzliche Verwirrungen stürzt, welche ihrerseits Schmerz bereiten.

Sein Autor Harro Albrecht (54), Arzt und Wissenschaftsjournalist, hält den Schmerz in erster Linie für einen „Lehrmeister“. Ohne Schmerz gäbe es seiner Meinung nach keine Kunst, keine Sprache, kein Denken. Gut gelaunt erzählt er auf Youtube, wie er sich gelegentlich selber Schmerz zufüge, um dieses oder jenes Phänomen genauer ins Auge fassen zu können. Das erinnert schon sehr an jenen berühmten Witz, in dem jemand seinen Kopf absichtlich gegen die Wand knallt. Frage: Warum tust du das? Antwort: Es ist so schön, wenn danach der Schmerz nachläßt.

Harro Albrechts Hauptanliegen ist offenbar der Kampf gegen die Pillen- und Tablettenmedizin. Auch die rasant steigende Zahl von Gelenk-Operationen hält er für bedrohlich. Er möchte „den Schmerz aus der Umklammerung der Medizin befreien“. Die inzwischen fast ans Wahnwitzige grenzende Manie, jederlei Schmerz zur Gänze zu vermeiden, ihn mit allen Mitteln und wo immer er sich bemerkbar macht, sofort frontal zu bekämpfen und schließlich ein für allemal zu besiegen, sei selber ein Teil vom Kern des Übels, sagt Albrecht.

Im Falle, daß sein Buch tatsächlich einen Bewußtseinswandel in der gegenwärtigen Ärzteschaft markiert, dürfte man staunen über das Ausmaß der Veränderung, die sich hier vollzogen hätte. Pankraz erinnert sich an einen „Deutschen Schmerzkongreß“ in Mannheim, auf dem man sich völlig einig war, daß die Morphiumgaben zur Schmerzstillung unbedingt erhöht werden müßten. „Die Dänen“, führte damals einer der Teilnehmer unter größtem Beifall aus, „verschreiben für eine Million Einwohner jährlich schon 12,5 Kilo, wir Deutschen aber nur 4,4 Kilo. Das muß sich ändern.“

Mittlerweile wird hierzulande, hört man, bei den meisten Ärzten mit der Vergabe von Morphium, dem größten Feind des körperlichen Schmerzes, noch mehr gespart als früher. Bedeutet das aber schon, daß wir uns dem körperlichen Schmerz künftig grundsätzlich nicht mehr als schlimmem Feind, sondern à la Albrecht eher als einer Art Bruder im Geist nähern sollen? Davon, findet Pankraz, kann nicht im geringsten die Rede sein. Solche Perspektiven wären ja geradezu pervers, führten in eine Welt des Sadismus und Masochismus, vor der uns der Himmel behüten möge.

Die Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes (IASP) in Genf definiert den Schmerz als „ein unangenehmes bis unerträgliches Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung einhergeht“. Es handelt sich also um ein geistig-körperliches Grenzphänomen – mit eindeutig körperlicher Grundursache. Entscheidend ist der Hinweis auf die Gewebeschädigung. Der Schmerz beginnt, wenn das Gewebe des Körpers beschädigt ist oder beschädigt zu werden droht.

Alle Begriffserweiterungen, die Rede von Seelenschmerz, vom Schmerz der Liebe, von schmerzlichen Abschieden usw. sind rhetorische Zutat, Metaphern, die ihren je eigenen Bedeutungsbezirk errungen haben mögen. Indes, im Ernstfall, wenn der wirkliche, der körperliche Schmerz zu bohren anfängt und sich gar als chronischer Dauerschmerz etabliert, als Kopfschmerz, als Rückenschmerz, als grausamer Rundum-Schmerz, hilft keine Psychophrase mehr, nur noch entschlossener, wohlbedachter Eingriff ins körperliche Gewebe.

Es mag schon sein: Zur Medizin der Schmerzstillung gehören nicht nur Präparate und Gelenk-Operationen, der Schmerzpatient muß auch lernen, sich mit seinem Schmerz zu arrangieren, die ihn umgebende Gemeinschaft muß Rücksicht auf seine Schmerzen nehmen und Trost spenden. Ebenso aber gilt: Der rechte Umgang mit dem Schmerz erfordert keine gemütliche Wohngemeinschaft (wie Harro Albrecht sich das offenbar vorstellt), sondern ein freies Kampfgelände.

Friedrich Nietzsche, der schmerzensreiche, hat den Schmerz als den „Geburtshelfer des Willens“ bezeichnet. Der Schmerz ist in Nietzsches Sicht – und es ist wohl die, die der Wahrheit am nächsten kommt – kein Freund des Menschen und schon gar nicht sein Kampfgefährte. Er ist sein Feind, freilich als solcher, wie alle ernstzunehmenden Feinde, ein erstrangiger Antriebsmotor zur Entfaltung von eigenen Wesenskräften.

Damit hängt zusammen, daß Schmerzsteigerungen oft gerade diejenigen treffen, die den Schmerz in stoischer Weise auszuhalten und für ihre Werke schöpferisch zu nutzen verstehen. Die Schmerzen lösen sich bei denen (so die verbürgte Auskunft der Medizin) von ihrer physischen Ursache regelrecht ab. Sie beginnen von sich aus zu tanzen, und der Schmerzempfindende gibt den Tanzboden ab. Das ist das, was Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral“ die schöpferische Wirkung des Schmerzes genannt hat.

Mit einem Satz: Es trifft gerade die Tapferen. Und nicht einmal die Medizin mit ihrem Billioneneinsatz kann ihnen helfen. Dicke Bücher noch weniger.