© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Auf einen frühen Ketzer berufen
Theologie: Die Debatte um einen Verzicht auf das Alte Testament stellt ein Tabu in Frage
Karlheinz Weißmann

Theologische Auseinandersetzungen erregen nur selten das Interesse der Öffentlichkeit. In diesem Fall ist das anders: Der Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, Notger Slenczka (55), hat in einem Aufsatz die Ansicht vertreten, daß die christlichen Kirchen auf das Alte Testament verzichten könnten, genauer: daß man darüber nachdenken solle, ihm den „kanonischen Rang“ zu entziehen. Eine Position, die jetzt – obwohl die Veröffentlichung schon aus dem Jahr 2013 stammt – zu heftigen Reaktionen geführt hat, unter anderem zur Distanzierung von Kollegen an der Hochschule und kirchlichen Funktionären.

Man darf Slenczka glauben, daß es nicht seine Absicht gewesen sei, eine breite Debatte über dieses Thema anzustrengen, wird allerdings auch feststellen müssen, daß seine Argumentation einigen Zündstoff enthält. Das hat weniger mit der Tatsache zu tun, daß er sich (in Teilen) positiv auf einen „Erzketzer“ der frühen Kirchengeschichte – Marcion – bezieht, der ähnliche Vorschläge schon im 2. Jahrhundert gemacht hat, und kaum etwas mit dem Versuch, die Tradition des liberalen Protestantismus – von Schleiermacher bis Harnack – der religionsgeschichtlichen wie der historisch-kritischen Methode aufzubieten. Die Gereiztheit seiner Gegner hängt vielmehr mit der Befürchtung zusammen, hier werde ein wohlgehüteter „Konsens“ in Frage gestellt.

Der Hintergrund der Debatte erklärt auch, warum von dieser Seite ausschließlich rhetorisch, nicht argumentativ gearbeitet wird, und zu den entscheidenden Insinuationen gehört, daß Slenczka willentlich oder unwillentlich Denkfiguren wiederbelebe, die in die Tradition der „Deutschen Christen“ und mithin des Nationalsozialismus gehörten.

Glaubenspraxis des

heutigen Protestantismus

Tatsächlich ist unbestreitbar, daß auch die „Glaubensbewegung“, die meinte, Christentum und NS-Weltanschauung verschmelzen zu können, das Alte Testament ablehnte und der erwähnte Marcion in ihren Reihen einen guten Ruf genoß. Allerdings kommt es Slenczka nicht in den Sinn, das Alte Testament wegen seiner „Artfremdheit“ abzulehnen. Ihm geht es vielmehr darum, die Frage zu klären, inwieweit es mit der Glaubenspraxis und der Frömmigkeit des heutigen Protestantismus zu tun hat, und seine Antwort lautet: wenig oder nichts.

Das mag denjenigen erstaunen, der die Bedeutung der Schöpfungserzählungen für die Umweltethik, der Erzvätergeschichten für die Kinderkatechese oder der Psalmen für die Gottesdienstgestaltung im Blick hat. Aber zu Recht weist Slenczka darauf hin, daß es sich hier immer um Versatzstücke handelt, das heißt um aus dem Zusammenhang herausgebrochene, oft auch zensierte Fragmente, die man so präpariert hat, daß sie, ohne Anstoß zu erregen, in den Zusammenhang zu passen scheinen: die Schöpfungserzählungen ohne Sündenfall, die Sintflutüberlieferung ohne noachitische Ordnung, die Erwählung Israels ohne Unterordnung der Heiden, der Exodus ohne Tötung der Erstgeburt, die Landnahme ohne Massaker an den Ureinwohnern, die Wiedererrichtung des Tempels ohne Ausstoßung derjenigen, die sich mit den Heiden vermischten.

Man kann das zum Teil auf die Seichtigkeit der heutigen evangelischen Theologie zurückführen, aber im Kern geht es doch um etwas anderes: das nach dem Zweiten Weltkrieg verankerte Tabu einer gründlichen Reflexion der Beziehung von Altem und Neuem Testament, Judentum und Christentum.

Slenczka verzichtet wohlweislich auf einen Hinweis in diese Richtung, denn der müßte den Vorwurf des „Antijudaismus“ provozieren. Seinen Text „Die Kirche und das Alte Testament“ hat er mit dem Wort „Provocare“, also „Herausrufen“, eingeleitet, dabei aber offensichtlich unterschätzt, daß seine Kontrahenten es gerade aufgrund der Schwäche ihrer Position nicht bei einem akademischen Streit belassen können. Die Klügeren unter ihnen wissen genau, daß ihre Stellung wesentlich davon abhängt, jede Kontroverse in der Sache zu vermeiden. Solange man sich auf die Ahnungslosigkeit der großen Masse der Kirchenmitglieder und auf die Wirkung der theologisch-korrekten Sprachregelungen verlassen kann, sind sie unangreifbar.

Umgekehrt liegt ein wesentlicher Grund für die Belanglosigkeit der heutigen evangelischen Theologie – Slenczka zitiert Harnacks Hinweis auf die „religiöse und kirchliche Lähmung“ – darin, daß an der Klärung der wirklich entscheidenden Punkte in bezug auf Lehre und kirchliches Selbstverständnis gar kein Interesse mehr besteht. Wenn sonst nichts, dann hat Slenczkas Vorstoß geleistet, auf diesen Skandal hinzuweisen.

Ob daraus weiteres folgt, steht dahin. Zum einen, weil Slenczka offenbar nicht die Absicht hat, den Konflikt im notwendigen Maß zuzuspitzen, zum zweiten, weil sich praktisch keine Gefolgschaft für seine Stellungnahme findet, zum dritten, weil die Auseinandersetzung jetzt schon in einem unübersichtlichen Maß mit persönlichen und inneruniversitären Streitereien verquickt ist, die der Sache abträglich sein müssen.