© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Die soziologische Hintertreppe
Ein umfangreiches Kompendium des 2003 verstorbenen Sozialwissenschaftlers Erwin K. Scheuch liegt jetzt vor
Volker Kempf

Von bedeutenden Persönlichkeiten der Sozial- und Wissenschaftsgeschichte bleibt meist ein zentraler Gedanke in Erinnerung. Bei Max Weber dürfte als erstes seine Theorie von der Bedeutung des Calvinismus für die Entstehung des Kapitalismus haften geblieben sein, bei Helmut Schelsky seine kämpferische Art, wie sie in „Die Arbeit tun die anderen“ zum Ausdruck kommt, und bei Erwin K. Scheuch, dem letzten Klassiker der deutschen Soziologie, sein entschlossenes Forschen und Publizieren ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten in der Politik. Das bekannteste Buch Scheuchs, das er zusammen mit seiner Frau Ute vorgelegt hat, ist dann auch die Studie „Cliquen, Klüngel und Karrieren“, das „Über den Verfall der politischen Parteien“ handelt – oder genauer: den Verfall der politischen Kultur. Ute Scheuch ruft nach ihrer einbändigen Biographie aus dem Jahre 2008 sieben Jahre später in ihrer nunmehr dreibändigen Biographie den ganzen Erwin K. Scheuch in Erinnerung.

Bundesrepublik wird zur „besten DDR, die es je gab“

Über die Person Erwin K. Scheuch wird ein Panorama der Sozial- und Wissenschaftsgeschichte eröffnet und eine Zeitreise durch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zum wichtigsten Vertreter der Kölner Schule neben René König aufgestiegen, scheinen die Abgrenzungskonflikte der verschiedenen akademischen „Schulen“ auf, aber auch die totalitären Wirren im „roten Jahrzehnt“, über die Ute Scheuch 2008 bereits einen eigenen Wurf landete und nun die Reaktionen darauf präsentiert.

Erwin K. Scheuch selbst nahm eine „pessimistische Einschätzung über das Fortleben der ‘68er’ nach ihrem ‘langen Marsch durch die Institutionen’“ vor und behielt den damit verbundenen Dogmatismus im Blick, wenn er in seiner Aufsatzsammlung „Muß Sozialismus mißlingen?“ schrieb: „Es wird sich erweisen: Der reale Sozialismus störte eher. Jetzt ist die Zeit eines utopischen Sozialismus wieder gekommen, der mehr ist als ein Appell an edle Gefühle – ein Sozialismus als Gegenaufklärung, ein Sozialismus, der die Herrschaft einer überflüssigen Kaste rechtfertigt.“

Verblüffende Erfahrungen machte Scheuch an seinem Kölner Lehrstuhl aber auch mit heute so selbstverständlich gewordenen Dingen wie der „Auftragsforschung“, bei der etwa Energieverbrauchsprognosen einfach vorgegeben wurden, welche aber illusorisch waren. Erwin K. Scheuchs Hauptwerk wurde gerade noch zu Lebzeiten des 2003 Verstorbenen fertiggestellt, trägt den Titel „Sozialer Wandel“, umfaßt zwei Bände und könnte heute aufgrund aktueller Phänomene wie der Euro-Krise fortgeschrieben werden. Erwin K. Scheuch – das wird noch einmal deutlich – arbeitete sowohl wissenschaftlich fundiert als auch allgemein verständlich, mitunter sogar mit Wortwitz, wenn er 1995 formulierte, die Bundesrepublik entwickele sich zur „besten DDR, die es je gab“.

Vor allem fand der Soziologe immer wieder Themen von großer allgemeiner Relevanz und schreckte auch nicht vor „heißen Eisen“ wie „‘Ausländerfeindlichkeit’ – Sachprobleme oder agitatorische Keule?“ zurück, worauf Ute Scheuch abschließend eingeht. Heute dagegen werden die Leser sozialwissenschaftlicher Literatur meist entweder mit ausweichenden Themen gelangweilt, oder die Gesinnungsethik wird überbetont, um ja nicht anzuecken.

Erwin K. Scheuchs Stimme fehlt heute in der akademischen Gleichtönigkeit ganz besonders. Um so wichtiger ist es, sich über Ute Scheuchs „soziologische Hintertreppe“ einen originären Zugang zur Sozial- und Wissenschaftsgeschichte des Kölner Soziologen zu verschaffen. Dabei eignet sich das vorliegende Werk auch als Nachschlagewerk, um einzelne Themen herauszugreifen, sich anregen zu lassen und sie weiterzudenken.

Ute Scheuch (Hrsg.): Erwin K. Scheuch. Wer da hat, dem wird gegeben. 3 Bände. Edwin Ferger Verlag, Bergisch Gladbach 2015, broschiert, 1.169 Seiten, 99 Euro