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Die Opfer zum Schweigen verdammt
Reformpädagogik und massenhafter Kindesmißbrauch: Der Odenwaldschule in Hessen geht finanziell die Luft aus / Schließung im Sommer angekündigt
Martin Voelkel

Die Meldung kam in ein paar dürren Zeilen: Die Odenwaldschule steht vor dem Aus, ihre Leitung teilt mit, daß es nicht gelungen sei, die Finanzierung zu sichern, der Betrieb werde zum Sommer eingestellt. Die Schülerzahlen sind in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gesunken, aktuell besuchen lediglich 149 Jugendliche die Einrichtung. Die frühere Leitung habe die Probleme verschleppt, heißt es, oder die Warnsignale bewußt übersehen, die darauf hindeuteten, daß die ökonomische Grundlage allmählich verfiel.

Die Reaktionen auf den Vorgang sind verhalten. Sie reichen von aus Erschöpfung gespeistem Desinteresse über Erleichterung bis zu etwas seifigen Kommentaren, wie dem der Frankfurter Rundschau, der resümiert, die Geschichte der Odenwaldschule sei „zwar überschattet von den unfaßbaren Mißbrauchstaten. Doch das Internat hat auch viele Schüler auf die Spur gebracht, die von anderen Schulen aufgegeben worden waren.“

Diese argumentative Doppelstrategie haben viele Unterstützer der Odenwaldschule bis zuletzt verfolgt. Ihnen geht es zwar nicht darum, die Tatsache zu leugnen, daß an der Odenwaldschule über Jahrzehnte Kinder und Jugendliche sexuell mißbraucht wurden, aber doch darum, die Reformpädagogik als solche vor dem Verdacht zu retten, derartige Übergriffe gefördert oder ermöglicht zu haben.

Vergewaltigung als

pädagogisches Mittel

Was den ersten Aspekt betrifft, wird man feststellen müssen, daß die Aufdeckung des Skandals ein ausgesprochen zäher Vorgang war, der sich zwischen 1998 und 2010 hinzog, erst zum Schluß gewisse Konsequenzen hatte, ohne daß aber die Hauptverantwortlichen – der ehemalige Schulleiter Gerold Becker und der ehemalige Musiklehrer Wolfgang Held – je zur Rechenschaft gezogen wurden; beide starben, bevor man wirksame juristische Schritte einleitete. Der Bericht einer Untersuchungskommission zu den Vorgängen geht von 132 Kindern und Jugendlichen aus, die zwischen 1965 und 1998 Opfer von sexueller Gewalt wurden. Soweit erkennbar, handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um Jungen und bei den Tätern um Homosexuelle mit päderastischer Neigung.

Den systematischen Mißbrauch als Verfallsphänomen zu deuten oder mit der Struktur eines Internats zu erklären, geht dabei genauso fehl wie der Versuch, direkt auf die Sexpol-Strategien der Neuen Linken oder Perversionen einzelner Verantwortlicher hinzuweisen. Man kann die Vorgänge an der Odenwaldschule nicht trennen von einem pädagogischen Projekt, das die Befreiung der Geschlechtlichkeit als entscheidenden Schritt auf dem Weg zum „Neuen Menschen“ betrachtete.

Der Ursprung solcher Ideen liegt weit zurück, schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – die Odenwaldschule wurde 1910 gegründet –, und ihre Wirkung erklärte sich daraus, daß die Träger alles andere als randständige Figuren waren. Vielmehr ging es um einzelne oder Gruppen, die zur Mitte der Gesellschaft, manchmal auch zu deren Führungskreisen gehörten oder entsprechende Kontakte besaßen; der Spiegel meinte, man könne durchaus von einer Art „Mafia“ sprechen.

Das erklärt viel von dem Effekt, den das elitäre Gebaren der Reformpädagogen hatte und das auch zögernde Eltern dazu brachte, nach einem Hinweis auf die Besonderheiten der „platonischen Liebe“ oder die Dichtung Georges, ihre Kinder einer Erziehung auszuliefern, die Vergewaltigung als pädagogisches Mittel einschließen konnte. Der „Corpsgeist“, von dem der Schöpfer der Odenwaldschule Paul Geheeb mit Vorliebe sprach, verdammte die Opfer jedenfalls zum Schweigen oder – schlimmer noch – brachte sie dazu, das Erlebte als Auszeichnung zu verstehen.

In einer Untersuchung zur Geschichte der Odenwaldschule wird auf Archiv-materialien hingewiesen, denen zu entnehmen ist, daß es schon in deren Anfangszeit Elternbeschwerden gab, die sich auf sexuelle Übergriffe bezogen. Auch da spielte die Homosexualität von Lehrern eine Rolle, aber es ging in erster Linie um Beziehungen zwischen männlichen Lehrern und Schülerinnen, die sie unterrichteten.

Daß solche Kontakte möglich waren, hatte mit der Koedukation zu tun, die zu den wichtigen Postulaten der Reformpädagogik gehörte, genauso wie die Gemeinschaft von Lehrern und Schülern, die Kritik der formalen Bildung und der Zensuren, des gegliederten Schulwesens, der Altersgruppenklassen und des Fächerkanons.

Trügerische Verheißung

der Distanzlosigkeit

Den Boden für alternative Vorstellungen im Erziehungswesen hatte die Lebensreformbewegung bereitet, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Faktor des intellektuellen Lebens in Deutschland geworden war. Aus ihrem Gedankengut speisten sich Theosophie und Anthroposophie, Vegetarismus und Tierschutz, Kampf für das Wahlrecht der Frau und gegen das Korsett, Wandervogel und Nacktkultur.

Die praktischen Folgen waren durchaus verschieden, zum Teil harmlos oder aufs Private beschränkt, aber zum Teil auch kulturrevolutionär und auf eine Vorstellung von „Natürlichkeit“ ausgerichtet, für die der Kampf gegen die Konventionen der „‘guten Gesellschaft’ mit ihrer verlogenen sexuellen Moral“ eine entscheidende Rolle spielte.

Die Formulierung stammte von Geheeb selbst, der mit seiner Frau in „offener Ehe“ lebte und sexuelle Beziehungen nicht nur zu Kolleginnen seiner Schule, sondern auch zu Schülerinnen unterhielt und offenbar entsprechendes Verhalten anderer deckte. Ohne Protektion wäre das weder in der Zeit des Kaiserreichs noch der Weimarer Republik möglich gewesen. Aber es handelte sich doch um ein mehr oder weniger geschlossenes, kaum nach außen wirkendes System.

Das änderte sich nach Wiedergründung der Odenwaldschule in der Nachkriegszeit, als sie den Nimbus der „besten Schule der Welt“ (Salman Ansari) erlangte und sich sukzessive die Vorstellung ausbreitete, daß die Reformpädagogik schon wegen ihres antifaschistischen Potentials die Lösung für all jene Probleme bereithalte, mit denen sich das traditionelle Schulsystem konfrontiert sah. Hellmut Becker, Förderer der Odenwaldschule, Freund und Beschützer des (nicht mit ihm verwandten) Leiters Gerold Becker, einer der wichtigsten Initiatoren der „Bildungsexpansion“ in den siebziger Jahren und erster Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, sprach ausdrücklich davon, daß die Reformschulen „eine Art Sauerteig im öffentlichen Schulwesen“ sein müßten. Die Vorstellung hat bis heute außergewöhnlichen Einfluß in der Bildungsdebatte.

Mustert man allerdings die Veränderungen des deutschen Schulwesens in den vergangenen Jahrzehnten durch und zieht die Menge der rein technokratischen Maßnahmen ab, wird man zu der Feststellung kommen, daß jede Fehlentscheidung auf diesem Sektor durch die Übernahme reformpädagogischer Konzepte zu erklären ist. In deren Zentrum stand und steht die Verheißung der Distanzlosigkeit: zwischen Schule und Leben, zwischen Erwachsenem und Kind, zwischen Dummen und Klugen, zwischen Lehrer und Schüler.

Diese Verheißung hat noch immer getrogen, auch wenn sie im Namen der „Ganzheitlichkeit“ daherkommt. Mehr noch, sie hat im Endeffekt auch die Rechtfertigung geliefert für das, was die Odenwaldschule nach Meinung eines Ehemaligen war: „pädagogisches Paradies mit Folterkeller“ (Christian Füller).

Odenwald-Schüler

Zu den ehemaligen Schülern der im April 1910 von dem Reformpädagogen Paul Geheeb (1870–1961) gegründeten Odenwaldschule gehören die Politiker Daniel Cohn-Bendit (Grüne) und Peter Conradi (SPD), der Musikproduzent, Liedermacher und Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm, die Verleger Konstantin Neven DuMont und Joachim Unseld, die Publizisten Johannes von Dohnanyi, Amelie Fried und Tilman Jens, der Manager Wolfgang Porsche sowie Andreas von Weizsäcker, zweiter Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten.

Foto:Odenwaldschule im hessischen Heppenheim: Systematische sexuelle Übergriffe auf Schüler