© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de

Fotos mit Hintergrund
Die Hitliste der zehn beliebtesten Selfie-Städte
Ronald Berthold

Was waren das noch für Zeiten, als wir im Urlaub den Schiefen Turm von Pisa fotografiert haben. Wieder zu Hause, haben wir den Film zur Entwicklung gebracht und die Fotos dann bei einem geselligen Abend unseren Freunden und der Familie gezeigt. Das Urlaubsfoto von heute sieht ganz anders aus: Da ist der Fotograf selbst drauf. Der Turm ist dann nur noch im Hintergrund zu sehen. Wichtig sind wir. Die Sehenswürdigkeiten sind nur noch Beiwerk. Blitzschnell verschicken wir unsere Selfies über Facebook und WhatsApp an die Daheimgebliebenen. Den netten Abend mit dem Wein und dem Käse aus der Urlaubsregion können wir uns dann auch sparen. Die Fotos will keiner mehr sehen. Es kennt sie ja schon jeder.

Geschmacklosigkeiten am Holocaust-Mahnmal

Früher wären wir die Angeber gewesen, hätten wir am laufenden Meter Briefe mit Selbstporträts verschickt. Da tat es noch die gute alte Postkarte. Heute sind wir alle auf dem Egotrip und schießen Selfies ohne Ende. Und die Medien feuern uns dabei an. Kaum ein Nachrichtenportal, das uns nicht einweiht, wo wir die coolsten Selfies machen können. Und damit wir uns möglichst klasse in Szene setzen können, gibt es bekanntlich den Selfie-Stick (JF 7/15) – Stangen, mit denen wir unsere Smartphones in die Ferne halten können. Das Selfie sieht dann aus, als habe es ein Fotograf gemacht. Was nicht allen gefällt: Die Verbotene Stadt in Peking macht ihrem Namen Ehre – Selfie-Sticks zu verwenden ist dort streng verboten. Natürlich nur zu aller Sicherheit.

Eine Auswertung bei Instagram ergab jetzt, daß der Eiffelturm den beliebtesten Hintergrund für unseren Foto-Narzißmus bietet. Außerdem unter den häufigsten Drei: „Disney-World“ in Florida und das höchste Haus der Welt, der Burj Khalifa in Dubai. In den ersten Zehn taucht dann noch „Euro-Disney“ in Paris auf. Auch London und New York sind mit je zwei Bauwerken in der Hitliste vertreten. Rom und Barcelona schaffen es immerhin einmal. Ein deutsches Motiv? Fehlanzeige.

Vielleicht um dem abzuhelfen, haben jetzt Dänen eine Internetplattform eröffnet, auf der sie Selfies vom Holocaust-Mahnmal in Berlin sammeln und zeigen. Wir sehen springende, lachende und die Zunge herausstreckende junge Leute zwischen oder auf den Stelen. Die Macher der Seite „Tindercaust“ versehen die Bilder dann auf englisch mit teils zweideutigen Kommentaren. Unter dem Bild einer freundlich schauenden Blondine mit Wollmütze steht zum Beispiel: „Dieses scheue Lächeln könnte ein Feuer in den Öfen meines Herzens entfachen.“ Ob das lustig, ironisch oder was auch immer sein soll, erschließt sich nicht wirklich.

Auf jeden Fall legt „Tindercaust“ den Finger in die Wunde. Eigentlich sollte das Holocaust-Mahnmal Deutschlands Schuld an prominenter Stelle in riesigen Ausmaßen auf ewig dokumentieren. Doch der Größenwahn war kontraproduktiv. Das Stelenfeld ist heute ein Spielplatz für große und kleine Touristen. Kinder spielen mit ihren Eltern Verstecken. Andere nutzen es als Labyrinth, Dritte springen von Stele zu Stele. Hier können wir alles erleben, was Spaß macht, nur kein würdiges Gedenken und Anklagen, wie es sich Lea Rosh einst gewünscht hat.

Lustige Selfies in Rapperposen gehen durch die sozialen Netzwerke. Dabei gibt es – wie überall in Deutschland – klare Regeln: Auf den Betonblöcken zu stehen oder darauf herumzuspringen, ist untersagt. „Wenn wir das sehen, sprechen wir Besucher darauf an“, sagt die Sprecherin der Mahnmal-Stiftung, Jenifer Stolz. Aber sie hat auch eine Ahnung, woher das respektlose Verhalten kommt: „Vielleicht weiß der eine oder andere wirklich nicht, wo er gerade ist.“ Kann schon sein, denn bei der Planung ging es weniger um Inhalte als um Gigantismus.

Doch das Holocaust-Mahnmal ist nicht das einzige Opfer der Selfie-Mania. Die Deutsche Presse-Agentur veröffentlichte unlängst eine Reportage darüber, daß sich Jugendliche in Auschwitz mit „Kußmund vor der Gaskammer“ oder mit „Schlafzimmerblick unter dem Lagertor mit der Aufschrift ‘Arbeit macht frei’“ fotografieren. Ja, so ist das. Nichts ist vor unseren Selfies, den dabei geschnittenen Grimassen und unserer Eitelkeit sicher.