© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

„Die Wut wächst“
Der Rechtsintellektuelle Éric Zemmour schockte mit seinem Bestseller „Der französische Selbstmord“ Ende 2014 die Grande Nation. Der Philosoph Alain de Benoist gilt als Vordenker der Nouvelle Droite. Ein Zwiegespräch
Silke Lührmann / Moritz Schwarz

Benoist: Éric, ist Ihnen bewußt, daß Sie in Gefängnissen regelrecht ein Star sind?

Zemmour: Inwiefern?

Benoist: Ein Freund von mir sitzt in Fleury-Mérogis. Er hat Ihr Buch gelesen. Nun hat er Heldenstatus, weil seine Mithäftlinge glauben, er kenne Sie persönlich. Ihr Buch wandert von Zelle zu Zelle. Es gibt dort eine ganze arabische Fraktion, die auf Sie schwört!

Zemmour: Lieber Alain, mein Vater hat fünfzig Jahre in Algerien gelebt und immer betont, wie sehr die Araber Ehre und Mut respektieren. Ihnen geht es nicht um Ideen, ihnen geht es um den Menschen. Was Sie erzählen, berührt und freut mich ungemein.

Benoist: Sie zeichnen detailliert nach, wie „Frankreich sich seit vierzig Jahren selbst kaputtmacht“. Dabei nehmen Sie als Ausgangspunkt den „Geist von 1968“, der die Schablone für den Individualismus und gesellschaftlichen Liberalismus bildete. Eine kühne Behauptung. Glauben Sie nicht, daß die Ursprünge der von Ihnen beklagten Phänomene weiter in die Geschichte zurückreichen?

Zemmour: Ich habe den Mai ’68 nicht als Bezugspunkt gewählt, sondern als Paradox. Denn gerade die Niederlage dieser Bewegung war es, die ihren Siegeszug auslöste. Natürlich hat der französische Niedergang eine größere historische Tiefe. Man könnte hier auf die Aufklärung, auf den Individualismus, auf 1789 verweisen. Es gibt jedoch ein Aber. Überall, wo noch Überbleibsel der Welt von früher vorhanden waren – also Ehrgefühl, Stolz auf gute Arbeit, Familiensinn, Respekt vor den Älteren, eine eindeutige Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in der Familie, all diese Traditionen, die auf die vorindustrielle Welt verweisen –, waren dem emanzipatorischen Individualismus Schranken gesetzt. Er war emanzipatorisch, weil er ein Gegengewicht hatte. Ab 1968 kippte das um: Von nun an gab es kein Gegengewicht mehr. Die alte Welt ist ein für allemal vorbei. Von Gilberth K. Chesterton stammt das Diktum über die heutige Welt, in der die alten christlichen Tugenden „durchgedreht“ seien: „Sie sind durchgedreht, da sie auseinandergerissen wurden und allein umherstreifen.“

„Die Kluft zwischen Rechts und Links hat sich aufgelöst“

Benoist: Sie blicken auf Ihre Jugend zurück und sagen: „Früher war alles besser!“ Doch: Was folgt daraus? Eine sim-ple Rückkehr zu früher ist unmöglich.

Zemmour: In seinem Pamphlet „L’erreur de calcul“ zitiert Régis Debray einen Wortwechsel zwischen den Künstlern Daumier und Ingres. Daumier legt seinem Freund nahe, sich seiner Zeit anzupassen. Dieser erwidert: „Und wenn die Zeit unrecht hat?“ Ich stimme tendenziell eher Ingres zu, auch wenn dies die Frage nicht klärt. Ich kann keine neuen Wege aufzeigen. Ich meine, daß es unerbittliche Logiken gibt, die sich uns aufzwingen, die zu dem führen, was ich beschreibe: zu Anomie, Konfrontationen, Kriegen.

Benoist: Aus Sicht Ihrer Gegner ist die „Zemmourisierung“ der öffentlichen Meinung gleichbedeutend mit einem „Rechtsruck“. Trifft das zu?

„Ein kultureller Krieg, der frontal geführt wird“

Zemmour: Nachdem sich die Kluft zwischen Rechts und Links in Luft aufgelöst hat, als sie mit der Globalisierung in Kontakt kamen, ist wieder die Kluft zwischen der Menge auf dem Platz und der Elite auf dem Balkon wirksam geworden, wie sie vor der aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Kluft zwischen Rechts und Links herrschte. Neu ist daran nur, daß die Bürger auf dem Platz sich keine Hoffnung mehr machen können, jemals auf den Balkon zu gelangen. Denn dieser befindet sich heute in New York, Singapur oder Schanghai. Wie US-Milliardär Warren Buffett glaube auch ich, daß wir einen neuen Klassenkampf erleben und daß die Reichen ihn gewinnen. Die Lage ist um so bedrohlicher, als in Frankreich ein ökonomischer Klassenkampf mit einem ethnischen Kampf zusammenfällt. Die Teilung zwischen Zugewanderten, Einwanderern, die schon länger im Land sind, und autochthonen Franzosen ist Folge einer kulturellen, wenn nicht zivilisatorischen Trennung in unseren Grenzen. Das Ineinandergreifen beider Konflikte macht sie explosiv.

Benoist: Sie erklären den französischen Niedergang als Ergebnis einer „dekonstruktiven“ Ideologie, die Sie Ihrerseits dekonstruieren wollen. Sie sagen: „Ich führe einen Kampf der Ideen im Rahmen eines Kampfes um die intellektuelle Hegemonie.“ Glauben Sie aber, daß Ihre Leser fähig sind, aus dieser reaktiven Haltung zu einem ideologisch strukturierten Denken vorzustoßen? Immerhin gelingt es vielen „Konservativen“ und „Reaktionären“ nicht, sich aus den geistigen Kategorien zu befreien, in denen die liberale Ideologie sie gefangenhält.

Zemmour: Seit dem Erscheinen von „Suicide français“ reise ich viel durchs Land. Ich treffe Menschen, zwischen denen starke soziologische, gesellschaftliche, intellektuelle Unterschiede bestehen. Mich erstaunt der Grad der Bewußtseinsbildung bei allen. Ich glaube, daß mein Buch eine wesentliche Tugend hat: Es macht jedem Leser verständlich, was auf dem Spiel steht und mit welcher Intensität der ideologische Krieg geführt wird. Das Publikum in der Provinz begreift, daß es tatsächlich einen kulturellen Krieg gibt, der frontal geführt wird. Die Franzosen haben sich jahrelang schweigend gefallen lassen, daß er ihre Lebensweise zerstört und sie unglücklich gemacht hat. Nun erkennen sie, daß sie von den Menschen, denen sie ihre Loyalität geschenkt haben, verraten worden sind. Darauf reagieren sie mit Schmerz und Wut – tiefer Wut.

Benoist: Sie haben die deutsche Wiedervereinigung als „Katastrophe“ für Frankreich bezeichnet. Lag sie aber nicht unvermeidlich in der Natur der Dinge?

Zemmour: Der Historiker der Action française Jacques Bainville hatte recht: Der Frieden war nur durch die Teilung Deutschlands möglich. USA und UdSSR hatten getan, was Frankreich 1918 hätte tun sollen, wenn die Engländer zugelassen hätten, daß wir das Rheinland zurückerobert und Deutschland in zwei oder drei Teile geteilt hätten. Wie Napoleon bin ich für ein karolingisches Reich, wenn Frankreich dabei das Sagen hat, und dagegen, wenn Deutschland den Ton angibt. Mir ist bewußt, daß ich in dieser Frage ein bißchen primitiv denke.

Benoist: Deutschland ist nicht Monaco. Man kann ihm nicht einfach Landesteile wegnehmen.

Zemmour: Die Wiedervereinigung war nicht vorherbestimmt; sie war nicht unabwendbar. Ich habe immer bedauert, daß Frankreich auf die Remilitarisierung des Rheinlands 1936 nicht sofort mit der Besetzung reagiert hat. Aus französischer Sicht ist das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der verpaßten Gelegenheiten. General de Gaulle wollte ein Deutschland, dessen industrieller Aufschwung Frankreich nützte. In einem Europa der Sechs unter französischer Führung sah er eine Chance, sich – um in der Diktion der damaligen Zeit zu sprechen – „wieder auf das Niveau der beiden Supermächte“ hochzuarbeiten. Der „Mann der Amerikaner “ hat die deutschen Vertreter übrigens stark manipuliert, damit das Europa Adenauers und de Gaulles, das Europa der „beiden Alten“, scheiterte.

„Frankreich künftig eine Art Bayern innerhalb der EU?“

Benoist: In Ihrer Kritik an regionalen Identitäten und lokalen Partikularismen greifen Sie Paul Morands Worte über de Gaulle auf – diesen „Linken, der zur Messe geht“ –, um den General wegen seiner Volksabstimmung von 1969 zur Dezentralisierung, Regionalisierung und gesellschaftlichen Teilhabe zu kritisieren.

Zemmour: Ich habe geahnt, daß man mir auf die Finger klopfen würde, wenn es um die Regionen geht. Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Dezentralisierung eine Katastrophe war. Ich gestehe zu, daß sich diese Katastrophe hätte vermeiden lassen, wenn man dabei anders vorgegangen wäre, andere Optionen verfolgt hätte. Leider aber hat die Dezentralisierung lauter kleine Zaunkönige hervorgebracht, die die Verschwendung zur politischen Linie erhoben haben und die öffentlichen Ausgaben explodieren lassen, in einem Ausmaß, das die Defizite des Zentralstaats noch überschreitet. Die Verwaltungseinheiten haben sich stets den jeweiligen technologischen Gegebenheiten angepaßt: Die Kommunen waren die richtige Organisationsform für Bauern, die zu Fuß gingen, die Départements für Reiter, die Regionen für die unter Georges Pompidou gebauten Autobahnen. Heute haben wir Schnellzüge und Internet und brauchen keine Regionen mehr, zumal sie sich nicht mit Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Bayern messen können, bei denen es sich zumeist um ehemalige Königreiche oder Herzogtümer handelt. Die Regionalisierung ist ein Mythos, den die französische Technokratie erfunden hat. Bei dem Tempo, mit dem wir versinken, habe ich Angst, daß Frankreich selber zu einer Art Bayern innerhalb eines großen europäischen Ganzen wird.

„Assimilierungspolitik führt automatisch zu Integration“

Benoist: Sie zitieren gerne das Sprichwort, in Rom solle man es halten wie die Römer, um Ihre Positionen als Befürworter eines republikanischen Modells der Assimilierung zu untermauern. Wenn jedoch die Assimilierung nicht mehr funktioniert – beweist dies nicht, daß die „republikanischen“ Grundsätze ihre Bedeutung weitgehend verloren haben?

Zemmour: Das erste Problem ist die Demographie. Man kann Menschen assimilieren, aber keine Völker. Und die Völker existieren, noch vor den Menschen. Sie sind unübersehbar. Sie lassen sich nicht einfach wegzaubern. Anders als etwa in Italien hinderte die französische Staatsmacht das Volk daran, sich gegen ein Zuviel an Einwanderung zu wehren. Beim Thema Einwanderung kommen zwei Phänomene zusammen: zunächst die Masse und die Absage unserer Eliten an die Assimilierungspolitik im Namen einer sogenannten Integration. Als Frankreich noch Assimilierung verlangte, fand automatisch eine Auswahl statt. Einwanderer, die sich nicht assimilierten, gingen entweder von selber wieder oder wurden in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Die strikte Durchsetzung der Assimilierungspolitik löste teilweise das Problem der migratorischen Bevölkerungsströme. Der Historiker Pierre Milza nennt sehr aufschlußreiche Zahlen zur Einwanderung von Italienern nach Frankreich: Zwischen 1870 und 1940 kamen drei Millionen Italiener nach Frankreich und nur 1,1 Million von ihnen blieben. Frankreich verlangte damals ein sehr hohes Maß an Assimilierung. Wäre man dieser Linie treu geblieben, wäre das Einwanderungsdrama heute sehr viel weniger akut.

Benoist: Wenn ich durch Europa reise, scheinen mir die Italiener unglaublich italienisch zu sein, die Deutschen unglaublich deutsch, die Spanier unglaublich spanisch. Die Franzosen hingegen haben ihre spezifischen Charaktermerkmale in erschreckendem Maße verloren.

Zemmour: Die Franzosen sind nicht mehr französisch, da gebe ich Ihnen recht. Die Nachteile, die sich aus dem Fehlen eines starken Staates ergeben, gereichen den Italienern in diesem Fall zum Vorteil, ihre Gesellschaft kann sich besser wehren, während hierzulande der Staat noch ziemlich stark ist und wir uns daher nicht wehren können. Die Vorzüge unseres zentralisierten Systems werden uns zum Verhängnis – nicht zum ersten Mal. Als Napoleon Moskau nahm, ging der Krieg weiter. Zwei Jahre später nahmen Russen und Österreicher Paris, und der Krieg war vorbei.

Benoist: Jean-Christophe Cambadélis, kommissarischer Vorsitzender der französischen Sozialisten, machte kürzlich das bemerkenswerte Eingeständnis: „Die Linke hat den Kampf um die Ideen seit zehn Jahren verloren.“ Wenn man bedenkt, daß die „Rechte“ in den vergangenen zehn Jahren in der geistigen Debatte auch nicht gerade brilliert hat – wer ist dann der eigentliche Sieger?

„Die Rechte und die Linke sind tot“

Zemmour: Niemand. Die Rechte und die Linke sind tot. Alles deutet darauf hin, daß die Zukunft einer großen Einheitspartei gehört, die das politische Spektrum von Manuel Valls über François Bayrou bis hin zu Alain Juppé abdeckt und sich dem Front National entgegenstellt, der seinerseits ebenfalls keine geistige Arbeit geleistet hat. Als Sie in den siebziger Jahren das Land aus dem Dornröschenschlaf gerüttelt haben, war deutlich zu erkennen, daß bestimmte politische Maßnahmen an die von Ihnen geleistete geistige Arbeit anknüpften. Ganz ehrlich, dieses Interesse an Ideen gibt es nirgends mehr in der politischen Welt. Das Niveau der Politiker hat erschreckend abgenommen. Die Minister sind ehemalige parlamentarische Assistenten, die Ministerpräsidenten ehemalige Pressesprecher. Das politische System bewegt sich, aber ihm fehlt der Nährboden. Wir befinden uns mitten in einer Phase der ideologischen Rekonstruktion. Die Präsidentschaftswahlen 2017 werden schlimm. Alle werden sich gegenseitig bekämpfen, um gegen Marine Le Pen antreten zu dürfen. So weit ist es mit uns gekommen.






Éric Zemmour, gilt als einer der bekanntesten rechtsintellektuellen Journalisten Frankreichs. Sein im Herbst 2014 erschienes – nicht ins Deutsche übersetzte – Buch „Le Suicide français“ entwickelte sich rasch zum Verkaufsschlager. Führende Politiker warnten davor, es zu lesen, oder nannten Zemmour eine „Gefahr“. Der Autor mußte Boykottaufrufe, Geldstrafen und Entlassungsversuche überstehen. „Der französische Selbsmord“ ist die Bilanz des Verfalls Frankreichs, für den Zemmour vor allem den Geist von 1968, die Zerstörung der französischen Souveränität durch die EU und die Masseneinwanderung verantwortlich macht. Er ist Kolumnist des Figaro, kommentiert in einer Radiosendung und in TV-Talkshows. Er ist algerisch-jüdischer Abkunft und wurde 1958 bei Paris geboren.




Alain de Benoist, gilt als Begründer und führender Theoretiker der „Nouvelle Droi-te“. Der Philosoph hat bereits über fünfzig Bücher veröffentlicht und ist Herausgeber der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis sowie ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift Eléments, aus der dieses Gespräch mit freundlicher Genehmigung der beiden Autoren in gekürzter Fassung übernommen wurde. Geboren wurde Alain de Benoist 1943 im zentralfranzösischen Tours.