© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Reinen Tisch machen
Theologie: Soll das Alte Testament auch für Christen verbindlich bleiben? Eine evangelische Debatte darüber verläuft erschreckend oberflächlich
Karlheinz Weissmann

Die jüngste Stellungnahme von Gewicht hat Heinrich Bedford-Strohm abgegeben, bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD: Gegenüber Journalisten äußerte er, man solle die von dem Berliner Theologen Notger Slenczka ausgelöste Debatte über die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Kirche „nicht so hoch hängen“.Im Klartext: Man solle ihr keine weitere Beachtung schenken. Damit war die Sache für den höchsten Repräsentanten der evangelischen Kirche erledigt, ganz ähnlich wie vorher schon für die Synode der EKD, die die Thesen Slenczkas bei ihrer jüngsten Tagung mit Schweigen überging.

Anders die Hauptversammlung des Reformierten Bundes, die sie scharf zurückwies und die Gelegenheit ergriff, ihre Gemeinden aufzufordern, das Alte Testament noch intensiver als bisher in den Gottesdienst einzubeziehen. Eine sachliche Auseinandersetzung fand allerdings auch bei den Reformierten nicht statt.

„Faktisch eine Aussage gegen das Judentum“

Insofern bestätigt sich der Eindruck, daß es seit Beginn des Streits um Slenczkas Aufsatz „Die Kirche und das Alte Testament“ (JF 19/15) eine Tendenz gibt, der Klärung möglichst aus dem Weg zu gehen. Ein erstes Indiz war schon die Ablehnung eines öffentlichen Streitgesprächs durch Slenczkas Hauptgegner an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität, Christoph Markschies, ein zweites die Verquickung von wissenschaftstaktischen, beruflichen und persönlichen Motiven. Markschies hat auch den Ton moralischer Empörung vorgegeben, der von anderen nur verschärft werden mußte; zu nennen sind vor allem der evangelische Vorsitzende des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Friedhelm Pieper, der Generalsekretär des Reformierten Bundes, Achim Detmers, sowie der Pädagoge Micha Brumlik. Dagegen hat sich die kleine Zahl von Unterstützern Slenczkas darauf beschränkt, dessen Gegnern mangelnde Differenzierungsbereitschaft vorzuwerfen.

Ansonsten wollte keiner auf Slenczkas Seite treten, obwohl der seine Behauptung, daß das Alte Testament (AT) faktisch keine Rolle mehr für die christliche Frömmigkeitspraxis spiele und es ehrlicher wäre, diesen Sachverhalt zuzugeben und deshalb von der Kanonizität des AT (der Verbindlichkeit als Glaubensgrundlage neben dem Neuen Testament) abzurücken, moderat formuliert hat.

Die Vorsicht Slenczkas ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, welchen Vorwurf seine Gegner bei der Hand haben. Brumlik will Slenczka zwar keinen „klassischen Antijudaisten“ nennen, kommt dann aber doch zu der Feststellung, daß dessen Haltung in bezug auf das AT faktisch als „Aussage gegen das Judentum“ betrachtet werden müsse, und Detmers geht sogar so weit, zu behaupten, daß jede Infragestellung des ersten Bibelteils dem Antisemitismus den Weg bereite. Welches Gewicht solche Angriffe haben, erschließt sich nur, wenn man bedenkt, mit welcher Intensität die evangelische Theologie seit Jahrzehnten daran arbeitet, eine Generalrevision der Lehre durchzuführen, um alles zu tilgen, was irgendwie nach Kritik des Judentums aussieht.

Die Folge ist ein Konzept „theologischer Korrektheit“, das mit Glaubenslehre im eigentlichen Sinn wenig zu tun hat, mehr mit ideologischen beziehungsweise geschichtspolitischen Vorgaben. Symptomatisch ist insofern die Frage, die Slenczka in einem Interview mit der Zeit gestellt wurde: „Darf man als deutscher Theologe nach der Schoa die Rolle des Alten Testaments nicht mehr verhandeln?“ Und ungewöhnlich mutig für einen Repräsentanten seines Fachs die Antwort: „Doch, das tue ich ja“. Allerdings bleibt Slenczka im weiteren ähnlich defensiv wie im Text des Aufsatzes, von dem der Konflikt seinen Ausgang nahm, und man nimmt ihm ohne weiteres ab, daß er nur an einen wissenschaftlichen Beitrag gedacht hatte und das an den Anfang gestellte „provocare“ jedenfalls nicht so zu verstehen war, daß er eine öffentliche Auseinandersetzung „provozieren“ wollte.

Immerhin zielte sein Vorgehen darauf ab, an einem als entscheidend betrachteten Punkt für mehr Deutlichkeit zu sorgen. Was dadurch Gewicht gewinnt, daß Slenczka seinen theologischen Ausgangspunkt im traditionellen Luthertum hatte und ein Vergleich seiner ursprünglichen Anschauungen mit denen, die er heute vertritt, zu der Einschätzung zwingt, daß es hier jedenfalls um mehr geht als einen individuellen Akt der Reflexion, an dessen Ende die Abweisung des Schriftprinzips und der normative Bezug auf die subjektive religiöse Befindlichkeit steht. Vielmehr kann man von einem symptomatischen Vorgang sprechen, dessen Ablauf keineswegs neu ist, sondern sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder so oder ähnlich in der evangelischen Theologie vollzogen hat.

Darin liegt auch die Ursache für Slenczkas Bezugnahme auf Adolf von Harnack (1851–1930), jenen einflußreichen Vertreter des protestantischen Liberalismus, der in einer maßgeblichen Arbeit versuchte, den „Erzketzer“ Marcion, der bereits im 2. Jahrhundert das AT aus dem Kanon entfernt wissen wollte, bis zu einem bestimmten Punkt zu rehabilitieren. Was Harnack an Marcions Vorstellungen diskutabel fand, war vor allem der Hinweis auf die „Fremdheit“ des AT für das christliche Glaubensverständnis, die Differenz zwischen einer auf ein Volk und dessen Erwähltheitsanspruch fixierten Lehre und der Vorstellung von der alle Menschen umfassenden Liebe Gottes. Daraus resultierte die Forderung Harnacks, „reinen Tisch zu machen und der Wahrheit in Bekenntnis und Unterricht die Ehre zu geben“, und das hieß seiner Meinung nach, die Verbindlichkeit des AT für die christliche Lehre aufzuheben: „das ist die Großtat, die heute – fast schon zu spät – vom Protestantismus verlangt wird“.

Die auch im Kontext des gegenwärtigen Streits wieder vorgetragene Behauptung, Harnacks Aussagen seien wegen der Abwertung des AT latent antisemitisch gewesen, quittierte der Judaist Shaye D. Cohen mit der lapidaren Feststellung „This is not anti-Semitism; this is Christianity“. Nur wenn man die faktische Entgegensetzung von Judentum und Christentum überhaupt in Abrede stellt – wozu die heutige evangelische Theologie neigt – und in letzter Konsequenz das Christentum als eine Variante des Judentums betrachtet, kann man derartige Positionen mit denen der Deutschen Christen in einem Atemzug nennen. Denn den liberalen Protestanten ging es zwar wie den Deutschen Christen um das Ausscheiden des AT, aber nicht weil man es als jüdisch, sondern weil man es als nichtchristlich empfand. Dasselbe gilt auch für Slenczka, der die Dinge allerdings differenziert genug sieht, um an anderer Stelle darauf hingewiesen zu haben, daß es sich bei einer dezidiert völkischen Auffassung eben um eine denkbare Reaktion auf das Historisch-Werden des Christentums gehandelt habe. Eine Positon, die in der heutigen evangelischen Lehre sowenig diskutiert werden kann wie die Frage, die Slenczka mit seinem Text zum AT aufgeworfen hat.

Es bestätigt sich damit zuletzt, was Harnack schon 1900 in seiner berühmten Vorlesung über „Das Wesen des Christentums“ als die drei Hauptgefahren für die Entwicklung des Protestantismus bezeichnete: das Katholisch-Werden, das Orthodox-Werden oder die Kollaboration mit dem Staat. Für den letzten Punkt wird man nur darauf hinweisen müssen, wie sehr sich der deutsche Protestantismus als Wächter der Zivilgesellschaft gefällt und als hypermoralische Instanz, die unerbittlich jeden Verstoß gegen den Konsens anzeigt und geahndet wissen will; was den zweiten angeht, ist vor allem auf die irritierende Neigung hinzuweisen, die die evangelische Kirche neuerdings gegenüber allem Formalen an den Tag legt, die unpassende Wiederentdeckung des Rituals selbst in dürftigsten Varianten bei klar zutage liegendem Ungeschick und weitgehender inhaltlicher Entleerung; in bezug auf den ersten Punkt genügt es, den Verlauf der aktuellen Diskussion in den Blick zu nehmen, die ganz von einem Autoritätsbewußtsein geprägt ist, in dem der Klerus Wahrheiten dekretiert und seine Arkana gewahrt wissen will.

Eine vierte Gefahr hat Harnack nicht gesehen, und auch Slenczka ignoriert sie, aber das Schulhaupt des heutigen protestantischen Liberalismus, Friedrich-Wilhelm Graf, macht sie sichtbar, indem er in einem Beitrag zur aktuellen Diskussion das eigentliche Problem souverän übergeht und statt dessen für einen radikalen religiösen Subjektivismus plädiert, der gar keine Grundlagen mehr anerkennt. Es ist aber überdeutlich, daß in diese Richtung kein Ausweg aus dem Dilemma zu finden ist. Wer weiter alle Verbindlichkeit abbaut, bereitet nicht der entfalteten Individualität im Glauben den Weg, sondern einer Beliebigkeit, die mit keinem Begriff von Gemeinde zum Ausgleich zu bringen ist.

Immerhin stehen die denkbaren Alternativen damit deutlich genug vor Augen, und es bleibt im Grunde nur das Mittel, das Luther in solcher Lage empfahl: „Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen; werden etliche indes verführet, wohlan, so geht’s nach rechtem Kriegsbrauch; wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden; wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden.“





Einwände sind schon alt

Die Frage, welche Bedeutung das Alte Testament für den Glauben der Christen haben soll, hat schon in der frühen Kirche Konflikte heraufbeschworen. Darunter den, den Marcion (ca. 85–160) mit der Behauptung auslöste, daß der Schöpfergott des AT unmöglich der Erlösergott des NT sein könne. Eine Auffassung, die stark durch den Gnostizismus beeinflußt war, dessen Gedankengut trotz Unterdrückung bis ins Mittelalter überlebte und für die Gedankenwelt der Katharer, der größten Häresie dieser Zeit, zentrale Bedeutung erlangte.

Dagegen haben die großen Kirchen des Westens wie des Ostens immer am Alten Testament als Teil des Kanons festgehalten. Das gilt – trotz gewisser Irritationen – auch für den Protestantismus. Wobei Luther betonte, daß der erste Teil der Bibel nur von Bedeutung sei, sofern darin „Christus getrieben“ werde, während Calvin zu einer ausgesprochenen Hochschätzung kam, die daraus resultierte, daß er in der Ordnung des ersten Gottesvolkes, also Israels, die des zweiten, also der Kirche, vorgebildet sah. Eine radikale Infragestellung des Kanons folgte faktisch erst durch die Aufklärung und deren Einsicht in den historischen Charakter der Bibel. Die Aufklärer hatten vor allem ethisch motivierte Einwände gegen die Gott im Alten Testament zugeschriebenen Eigenschaften – Eifersucht, Zorn, Haß – und gegen die Inhumanität vieler göttlicher Weisungen. Argumente, die sich so auch bei Schleiermacher (1768–1834) und dann im liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts fanden, dessen kritische Stellung zum Alten Testament durch Adolf von Harnack abschließend begründet wurde.

Es gab von diesen liberalen Positionen zahlreiche Übergänge zu „deutsch-christlichen“ Auffassungen. So hat etwa Houston Stewart Chamberlain in seinem Hauptwerk, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, von Marcion ausdrücklich als einem „wahrhaft großen Manne“ gesprochen und in seinem intensiven Gedankenaustausch mit Harnack geäußert, daß er dessen Vorbehalte gegen das Alte Testament als Bestätigung der eigenen ansehe. Allerdings blieb die Distanz zwischen beiden groß, resultierend aus Harnacks Widerwillen gegen den „antijüdischen Dämon“, von dem er Chamberlain getrieben sah und der tatsächlich das eigentliche Motiv für die Vorstellung eines „arischen Christentums“ war, die in völkischen Kreisen umlief.

Schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg haben sich die Umrisse des „modernen Marcionitismus“ (Richard Faber) deutlich abgezeichnet. Zur Entfaltung kam diese Strömung allerdings unter den Bedingungen der großen Krise der zwanziger und dreißiger Jahre, die eben nicht nur eine ideologische und ökonomische, sondern auch eine religiöse war. Dabei differenzierte sich das Feld weiter aus, und es traten neben die liberale und die deutsch-christliche Fraktion noch eine katholische (im Umfeld des George-Kreises und Carl Schmitts) und eine konservative (im Umfeld Wilhelm Stapels und der Vertreter einer „Volksnomostheologie“).

Faktische Geltung erhielt aber nur die deutsch-christliche aufgrund ihrer Affinität zum „positiven Christentum“ im Sinn des NS-Programms. Das bedeutete umgekehrt, daß ihr Einfluß nach 1933 lediglich zu einem kleinen Teil auf Überzeugungskraft beruhte. In erster Linie bauten die Deutschen Christen bei den Gleichschaltungsversuchen, mit denen sie die evangelischen Kirchen unter ihre Kontrolle zu bringen suchten, auf die hinter ihnen stehende politische Macht.

Ein Umstand, der indes nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß die von dem Theologen Emanuel Hirsch als bedeutendstem Kopf dieser Richtung gestellten Anfragen grundsätzlicher Natur waren. Das erklärt nicht nur die unerwartete Nähe seiner Positionen etwa zu den Anschauungen eines Rudolf Bultmann, sondern auch eine Art kryptischer Weiterwirkung bis in die Gegenwart.

Foto: Altes Testament, Stempel (Montage): Wer weiter Verbindlichkeiten abbaut, bereitet nur der Beliebigkeit den Weg