© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Letzte Option: Waffen liefern
Ukraine-Hilfe: Ein neues US-Militärprogramm soll Kiew stärken / Auch die Nato setzt Akzente
Stefan Michels

Der Aprilregen, der auf die Soldaten auf dem westukrainischen Militärstützpunkt Jaworiw niederprasselte, konnte die gute Laune des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko nicht trüben. Stolz rief er in die Runde: „Unsere Zusammenkunft heute ist ein Symbol für unsere neue Partnerschaft und eine neue Zukunft.“ Dreihundert Fallschirmjäger des US-Heeres waren eingetroffen, um nahe dem westukrainischen Lemberg ein neues Kapitel in den Militärbeziehungen mit Kiew einzuläuten.

Ziel ihrer sechsmonatigen Trainingsmission ist, der neugegründeten ukrainischen Nationalgarde beim Aufbau einer schlagkräftigen Kommandostruktur Unterstützung zu leisten. Der Einsatz wurde vom US-Kongreß gebilligt und wird aus einem Fonds finanziert, der „Partnerstaaten“ in die Lage versetzen soll, „auftretenden Herausforderungen für die nationale Sicherheit der USA zu begegnen“. Weitere zweihundert Militärberater beabsichtigt Kanada zu schicken; ihre Einsatzdauer wird bis 2017 reichen.

Die Schubhilfe für das ukrainische Militär ist Bestandteil der US-Operation „Atlantic Resolve“ (Atlantische Entschlossenheit), deren Wirkbereich im osteuropäischen Staatengürtel von der Ostsee bis zum Schwarzmeer liegt. Dieses mit einem Budget von einer Milliarde US-Dollar ausgestattete Programm soll den nervösen Nato-Verbündeten in der Region das ungebrochene Engagement Washingtons „vor dem Hintergrund der russischen Intervention in der Ukraine“ demonstrieren.

Obamas zögerliche Haltung verärgert Republikaner

In dem zugrundeliegenden Strategiepapier beschwören die USA die langjährige transatlantische Sicherheitspartnerschaft, fordern die Erhöhung der Einsatzbereitschaft der Nato für den gemeinsamen Verteidigungsfall und betonen, die Operation so lange fortsetzen zu wollen, bis das „regionale Hegemoniestreben“ Moskaus beendet sei.

Das einzige Teilnehmerland, das nicht zur Nato gehört, ist die Ukraine. Im März stockte das US-Verteidigungsministerium seine Lieferungen an Kiew auf 75 Millionen Dollar auf. Zum Liefer-umfang gehören bislang ausschließlich nichttödliche Ausrüstungsgegenstände wie Fahrzeuge, Schutzwesten, Helme und dergleichen.

Eine neue Qualität droht der Konflikt nun jedoch durch eine Gesetzesvorlage anzunehmen, der unlängst im Verteidigungsausschuß des US-Repräsentantenhauses ausgearbeitet wurde. In dem Entwurf fordern die Abgeordneten beider Parteien erstmals ausdrücklich die Lieferung von „tödlichen Waffen defensiver Art“ – im Wert von 200 Millionen Dollar in einem Zeitrahmen bis Herbst 2016 – an die ukrainischen Streitkräfte. Begründet wird der Schritt damit, der Ukraine Mittel an die Hand zu geben, um deren Souveränität gegen „ausländische Aggressoren“, insbesondere gegen Angriffe der prorussischen Separatisten zu verteidigen. Die Aufrüstung der Ukrainer, so die im Papier dargelegte Logik, schaffe günstigere Voraussetzungen für eine Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungswege.

Mit dieser Forderung stehen die US-Politiker nicht alleine da. Der ehemalige Oberkommandierende der Nato-Streitkräfte in Europa, James Stavridis, sprach sich vergangenen Monat vor einem Senatsausschuß für die Lieferung von panzerbrechenden Waffen an die Regierungstruppen aus. Auf den Einwand, daß Rußland als Reaktion die Hilfslieferungen an die prorussischen Separatisten ausweiten könnte, antwortete Stavridis, daß er mit keinem direkten Eingreifen russischer Truppen rechne, räumte aber gleichzeitig ein, daß die Zuführung von Waffen in den Konflikt die Situation grundlegend verändern könnte. Sein amtierender Nachfolger Philip Breedlove stößt in das gleiche Horn. Als Antwort auf den diplomatischen, ökonomischen und militärischen Druck, den Moskau auf die Ukraine ausübe, dürfe keine Option vom Tisch genommen werden. „Wir im Westen sollten alle unsere Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Könnte das destabilisierend sein? Die Antwort ist ja. Aber in Untätigkeit zu verharren könnte auch destabilisierend wirken.“

Bereits seit Beginn der Ukraine-Krise sieht sich die US-Regierung erheblichem innenpolitischen Druck ausgesetzt, eine schärfere Gangart gegenüber Moskau einzuschlagen. Insbesondere der republikanische Senator John McCain läßt kaum eine Gelegenheit aus, Obamas militärische Zurückhaltung als präsidentielle Führungsschwäche zu geißeln. Überraschend ist allerdings der Zeitpunkt der Vorstöße. Seitdem Kanzlerin Angela Merkel und der französische Staatschef François Hollande im Februar mit Wladimir Putin eine Waffenruhe aushandeln konnten, sind die Kämpfe im Donezbecken trotz gelegentlicher Zusammenstöße erheblich abgeflaut. Amerikanische Waffenlieferungen würden in dieser Situation unzweifelhaft eine neue Eskalationsdynamik auslösen.

Schon jetzt besteht die Gefahr, daß die Lage durch einen unbeabsichtigten Zusammenstoß der Russen und Amerikaner außer Kontrolle gerät, wie eine nur knapp vermiedene Flugzeugkollision über der Ostsee zeigte. Nach Ansicht des Rußlandexperten Andrew Weiss ist die Volatilität des Konfliktes so ausgeprägt, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis es zu einer weiteren Zuspitzung komme.

Auf dem Nato-Gipfeltreffen in Wales im vergangenen Herbst betonten Europäer und Amerikaner die Schlüsselrolle einer unabhängigen, souveränen und demokratischen Ukraine für ihre gemeinsame Sicherheit. Man werde zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und seine Interoperabilität mit Streitkräften der Nato zu verbessern.

Deutschlands Haltung

als große Unbekannte

Der polnische Diplomat Marcin Koziel, Leiter des Nato-Verbindungsbüros in Kiew, formulierte den Anspruch noch deutlicher: Ziel der Streitkräftereform sei, die ukrainische Armee „auf einen euroatlantischen Standard“ zu heben. Zu diesem Zweck wurden mehrere Treuhandfonds gegründet. Ukrainische Soldaten nehmen inzwischen an über zweihundert Nato-Ausbildungskursen teil. Ebenfalls intensiviert wurde die institutionelle Kooperation mit Nato-Militärschulen. Im laufenden Jahr werden ukrainische Truppen bei einem Dutzend internationaler Militärübungen mitwirken.

All diese Bemühungen tragen die Handschrift der neuen Nato-Strategie, Abschreckung durch Stärke zu bewirken – allerdings weiterhin mit angezogener Handbremse. Bislang ist die Verteidigungsallianz peinlich darauf bedacht, Hilfe nur im nichtletalen Bereich zu gewähren. Auch die Wahl Jaworiws als Stützpunkt für die Ausbildungsmission, in größtmöglicher Distanz zum ost-ukrainischen Kampfgebiet, fällt in dieses Schema. Ob aber Rußland diese relative Zurückhaltung wirklich goutiert, ist fraglich. „Was werden diese ausländischen Militärberater die Ukrainer lehren – wie man weiter diejenigen tötet, die russisch sprechen?“ fragte der russische Außenamtssprecher Alexander Lukaschewitsch scharf.

Eine interessante Sicht der geopolitischen Lage offenbarte kürzlich George Friedman, Leiter der US-amerikanischen Denkfabrik Stratfor. Friedman zufolge sei es eine Langzeitstrategie der US-amerikanischen Außenpolitik, das Zusammengehen Deutschlands mit Rußland im Vorfeld zu unterbinden. Einzig die Verbindung von deutschem Industriepotential mit den russischen Ressourcen an Rohstoffen und Menschen könne für Amerika bedrohlich werden. Deshalb sei es notwendig, Deutschland fest in westliche Strukturen einzubinden, und es durch einen „cordon sanitaire“ von Rußland räumlich zu trennen – just der osteuropäische Staatenkranz, der unter Einschluß der Ukraine das Operationsgebiet von „Atlantic Resolve“ bildet. Die große Unbekannte im Ukraine-Konflikt sei die Haltung Berlins. Was werde Deutschland tun?

Sowohl Außenminister Frank-Walter Steinmeier als auch Angela Merkel lassen aber keinen Zweifel an ihrer Bündnis-treue aufkommen. Entsprechend pries die Kanzlerin Mitte Januar im Beisein von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Ergebisse des Gipfels in Wales. Jetzt, so Merkel, gehe es darum, das dort Versprochene auch „wirklich umzusetzen“. Es gehe um mehr Maßnahmen zum Schutz Polens, der baltischen Staaten, aber auch Rumäniens und Bulgariens. „Deutschland fühlt sich verpflichtet, die Solidarität mit den mittel- und osteuropäischen Staaten natürlich nicht nur auf dem Papier zu haben, sondern sie auch wirklich zu einem praktischen Einsatz zu bringen“, betonte Merkel.

Vor diesem Hintergrund übernahm Deutschland nicht nur eine Führungsrolle bei der Einrichtung einer „schnellen Eingreiftruppe“ (Very High Readiness Joint Task Force). Die Truppenübungsplätze in Grafenwöhr und Hohenfels, Stützpunkte der United States Army Europe und der United States Air Forces in Europe, sind auch Kernstücke der Operation „Atlantic Resolve“.





Aktivitäten im Rahmen der Operation „Atlantic Resolve“ in den vergangenen zwölf Monaten

Estland

● Atlantic Resolve Training

● 173rd Airborne Brigade

Bilateral Training

● Exercise Spring Storm

● Exercise Saber Strike

● Nato Baltic Air Policing

Lettland

● Atlantic Resolve Training

● 73rd Airborne Brigade Bilateral Training

● Exercise Flaming Sword

● Exercise Summer Shield

● Exercise Saber Strike

● Exercise Namejs

Litauen

● Atlantic Resolve Training

● Exercise Summer Shield

● Exercise Saber Strike

● Nato Baltic Air Policing

● Exercise Flaming Sword

Polen

● Atlantic Resolve Training 2015

● USAF Aviation Detachment

Rotation / Augmentation

● Nato Baltic Air Policing

● 173rd Airborne Brigade

Bilateral Training

Ukraine

● Training und Ausrüstung der ukrainischen Nationalgarde

● Reform der Verteidigungs-

Institutionen

● U.S.-ukrainische bilaterale

Verteidigungsgespräche

● Lieferung nichttödlicher Hilfsmittel (Nahrung, Helme, Schutzwesten)

Moldawien

● Operation Atlantic Resolve

Rumänien

● Exercise Platinum Lynx

● Exercise Platinum Eagle

● Exercise Carpathian Spring

Bulgarien

● Exercise Saber Guardian

Deutschland

● Atlantic Resolve Training

● Exercise Combined Resolve II

● 12th Combat Aviation Brigade Emergency Deployment Training

● Exercise Allied Spirit I

Großbritannien

● Air-to-Air Refueling Missions in Support of NATO

Schwarzes Meer

● Exercise Platinum Lion 15

● Stationierung der Kriegsschiffe USS Vella Gulf, USS Donald Cook, USS Truxtun, USS Mount Whitney, USS Cole, USS Taylor