© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Pankraz,
die Hanse und der Stolz der Deutschen

Man kann endlich aufatmen: Die Woche des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs und die „Befreiung“ Europas vom Nationalsozialismus ist vorbei. Die Sieger von anno dunnemals haben ihre Feiern gehabt, und der in Deutschland herrschende politisch-mediale Komplex hat sich wieder einmal voll austoben können in Schuldbekenntnissen und untertänigsten Dankbarkeitsbezeugungen, inklusive Kranzniederlegung am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. „Wie in alten Honnecker-Zeiten“, kommentierte ein Betrachter der Zeremonie vor dem Fernseher.

Überall war in den vergangenen Tagen zu spüren, wie angewidert das Volk von all der offiziellen Gedenkhuberei war, wie isoliert der politisch-mediale Komplex dastand. Und dieser spürte diese seine Isoliertheit und schlug geradezu blindwütig zurück. „Es waren die Deutschen, nicht die Nazis“, titelte der Spiegel höhnisch, die sogenannte Schuldfrage betreffend.

Jener oben erwähnte Fernsehzuschauer aber klagte: „Warum sollen wir denn immer nur die Helden der anderen feiern? Wir hatten doch auch Helden, Millionen tapferer Soldaten, auf die man stolz sein darf! Oder etwa nicht?“ Pankraz konnte den Mann nur allzu gut verstehen. Jedes Gemeinwesen braucht, um blühen oder auch nur überleben zu können, historische Haltegriffe, verläßliche Identitätsanker, Anlässe zum Stolzsein. Es wird höchste Zeit, daß dies in den Schulen und bei den zeitgeschichtlichen Sendungen des Fernsehens endlich wieder berücksichtigt wird.

Es müssen ja nicht unbedingt militärische Anlässe sein, gerade in Deutschland nicht, dessen Ruhm sich ja vor allem friedlichen, von Kaufleuten und Unternehmern geprägten Epochen verdankt. Daß Deutschland Handelsnation Nummer eins in der Welt ist – ist das kein Anlaß für stolze Genugtuung und Gelassenheit beim Ertragen von Rankünen und Neidtiraden? Leider hat das Wort „Handelsnation“ hierzulande einen irgendwie verächtlichen Klang, der noch verstärkt wird durch die zur Zeit so modische Kapitalismuskritik.

Der Kaufmann steht weit unten in der Werteskala der Berufe, rangiert knapp über den Journalisten und Gastwirten, äonenweit unter den Ärzten und evangelischen Pastoren. So wird gar nicht positiv wahrgenommen, daß eine der herausragendsten Taten der Deutschen die Schaffung der Hanse im Mittelalter war jenes Kaufmannsbundes, der die bisher wohl einzige wirklich gut funktionierende Internationale gewesen ist, weniger bürokratisch und sehr viel liberaler als die heutige EU mit ihrem Euro.

Zudem ist die Geschichte der Hanse ein sagenhaft bunter Bilderbogen aus kühnen Expeditionen, vielsprachigen Handelskontoren und raffiniert aufgesetzten Verträgen. Kaum etwas davon hat sich in der kollektiven Erinnerung eingenistet, von Literatur und Kunst zu schweigen. Pankraz kennt kein einziges Werk der deutschen Literatur, wenigstens kein erstklassiges, das der Hanse oder auch nur dem Phänomen der Kaufmannschaft im allgemeinen gewidmet wäre.

Der Fall erscheint um so verwunderlicher, wenn man sich klarmacht, daß die zur gleichen Zeit im Orient blühende Literatur regelrecht durchtränkt ist vom Geist des Kaufmannstums, von den Düften und Schreien des Basars, der Poesie schwer beladener Kamelkarawanen, den farbenprächtigen Abenteuern Sindbads, des kaufmännischen Seefahrers. Einzig die deutsche Romantik fängt wenigstens eine Ahnung dieser Pracht ein.

Wenn etwa Novalis den „Handelsgeist“ als den „großartigsten Geist schlechthin“ feiert, weil er „alles in Bewegung setzt und alles verbindet“, so wird damit erstmals Sindbad-Niveau in der deutschen Literatur erreicht. „Der Handelsgeist“, so lesen wir in den Fragmenten des Novalis-Nachlasses, „weckt Länder und Städte, Nationen und Kunstwerke. Er ist der Geist der Kultur, der Vervollkommnung des Menschengeschlechts.“ Aber schnell werden solche Töne durch den aufkommenden Realismus des 19. Jahrhunderts wieder zugedeckt.

Gustav Freytags grämlicher Wälzer über „Soll und Haben“ mit dem langweiligen Anton Wohlfart auf der einen, dem schmierigen Veitel Itzig auf der anderen Seite ist faktisch eine Denunziation des Kaufmannsstandes, und Gottfried Kellers „Martin Salander“ macht den Handelsmann, trotz weitreichender internationaler Beziehungen, vollends zur traurigen Figur. Von da bis zur Verfallsgeschichte der „Buddenbrooks“ ist es nur ein kleiner Schritt. Und nach Thomas Mann sind die in der deutschen Literatur hier und da noch auftretenden Kaufleute ohnehin nichts als schlechte Karikaturen.

Von Marx inspirierte Superintellektuelle hielten den Handel ja für völlig überflüssig, für eine Ausgeburt schnödester Profitgesinnung. Eines der ersten Dekrete des bolschewistischen „Rates der Volkskommissare“ nach dem Oktoberputsch von 1917 betraf die „Abschaffung des Handels“. An seine Stelle sollte die „planmäßige Versorgung der Bevölkerung mit allem Notwendigen“ treten. Die Folge war natürlich sofortiges Desaster jeglicher Versorgung, ein unbeschreibliches Chaos, das in nackter Hungersnot mündete.

Nicht weniger handelsfeindlich war der Versailler Vertrag, den die Westalliierten zur selben Zeit dem besiegten Deutschland diktierten. Das Reich sollte zahlen, zahlen, zahlen, andererseits hinderte man es durch horrende Produktions- und vor allem Handelsbeschränkungen daran, zu dem Gelde zu kommen, mit dem es hätte zahlen können. Die meisten Historiker sind sich inzwischen darüber einig, daß hier der Kern des kommenden Unheils lag. Gebietsverluste und Kriegsschuldlüge mochten den Stolz der Deutschen verletzen – die Handelsbeschränkungen verletzten ihr ureigenes Genie, und das war letztlich das weitaus Schlimmere.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie glücklicherweise gar nicht erst dazu, ihren verwundeten Stolz zu pflegen, weil man sich im Westen vernünftigerweise zu einem freien Welthandel entschlossen hatte, in den sich die Besiegten erfolgreich einschalten durften. Das war dann mal eine Befreiung, über die sich wirklich alle freuen konnten.