© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Ein Kommissar in Spree-Chicago
Literatur: Die Bestseller von Volker Kutscher spielen vor einem historisch authentischen Hintergrund
Karlheinz Weißmann

Märzgefallene“ ist ein doppeldeutiger Begriff. Er bezog sich ursprünglich – ernst gemeint – auf die Toten der Märzrevolution von 1848, dann – spöttisch – auf diejenigen, die nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 „umgefallen“ waren und rasch auf die siegreiche braune Seite wechselten. In dem neuen Roman von Volker Kutscher (52) gibt es sogar noch einen dritten Sinn: „Märzgefallene“ bezieht sich da auf diejenigen Soldaten, die während der Operation „Alberich“ im Frühjahr 1917 bei Räumung besetzter Gebiete an der Westfront starben.

Unter dem entsprechenden Titel hat ein ehemaliger Offizier eine romanhafte Verarbeitung seiner Erlebnisse präsentiert. Sie soll erscheinen, während sich in Berlin die erste Phase der Machtübernahme vollzieht, nach dem Reichstagsbrand eine kommunistische Verschwörung gefürchtet oder herbeigesehnt wird, die demokratischen Kräfte paralysiert erscheinen oder wenigstens das Gesicht zu wahren suchen und die Menschen in ihrer Mehrzahl zwischen Begeisterung für das Neue, Skepsis und Feindseligkeit schwanken und trotz des Umbruchs ihren Alltag bewältigen müssen.

Das gilt auch für Kutschers Hauptfigur, den Kriminalkommissar Gereon Rath, der einerseits die bevorstehende Heirat mit seiner Kollegin Charlotte „Charly“ Ritter im Blick zu behalten und gleichzeitig einen Mordfall zu klären hat, der auf merkwürdige Weise mit dem erwähnten Romanprojekt zusammenhängt: Denn in dessen Zentrum steht ein spektakulärer Goldraub während des Krieges, und die daran Beteiligten fallen nun einem Mörder zum Opfer, der mit einem „Grabendolch“ tötet, wie ihn die Soldaten für den Nahkampf selbst angefertigt hatten.

Gründliches Studium

zeitgenössischer Quellen

Es ist allerdings zu betonen, daß Kutschers Leserschaft an seinen Büchern weniger den Fall als solchen, eher die Entwicklung der wichtigen Personen sowie die Ausmalung des Zeitkolorits schätzen dürfte. Nur selten erscheinen die Ansichten und Einsichten seiner Personen etwas anachronistisch, im allgemeinen wird man Kutscher eine sichere Hand für Hauptfarben und Atmosphäre der Vergangenheit zubilligen, einen Sinn fürs Detail und eine angenehme Neigung, mit Informationen zu überraschen, die man nur bei sehr gründlichem Studium sehr abgelegener zeitgenössischer Quellen erlangen kann.

Das gilt für die langfristigen Folgen des Nachkriegs, der sich weit in die zwanziger Jahre erstreckte (im ersten Band „Der nasse Fisch“), genauso wie für Aspekte des Umbruchs vom Stumm- zum Tonfilm (im zweiten Band „Der stumme Tod“), für die Bedeutung der jüdischen Mafia diesseits und jenseits des Atlantiks (im dritten Band „Goldstein“) oder für die Wirkungen der deutschen Indianerromantik, die Verkehrsprobleme im durch den „Korridor“ geteilten Reichsgebiet oder die prekäre Stellung der Kaschuben (im vierten Band „Akte Vaterland“).

Das Leitmotiv der Bücher bildet aber alles, was zum Leben eines Rheinländers im „Spree-Chicago“ der Zeit gehörte, das heißt die Irritation über die Ungemütlichkeit und Hektik Berlins, den schnoddrigen Ton und den vielen Asphalt, die Modernität und das Fehlen des Karnevals, die Tatsache, daß hier nicht das schwarze, sondern das rote Parteibuch den Ausschlag gibt und die Schwächen der Republik viel deutlicher hervortreten als in Köln, das Oberbürgermeister Adenauer und der „Klüngel“ fest in der Hand haben.

Wohltuend ist immer die Zurückhaltung in bezug auf volkspädagogische Lektionen, die sich angesichts des historischen Rahmens anbieten würden. Der politischen Ignoranz Raths, die sich vor allem aus dem Widerwillen gegenüber seinem Vater speist, der als Zentrumsmann Karriere im Polizeidienst gemacht hat, werden die – manchmal arg weitsichtigen – Einschätzungen seiner Verlobten kontrastiert, aber sonst erscheinen die Personen überzeugend eingebettet in ihre Gegenwart. So gewinnt der Leser den Eindruck von Authentizität, das heißt von Akteuren, die das tun, was Menschen eben tun.

Allzu große Nähe zum

organisierten Verbrechen

Jedenfalls gibt es bei Kutscher keine übermenschlichen Lichtgestalten. Rath ist ganz sicher keine. Ein Kriminalbeamter, der sich unter dem Druck einer Pressekampagne aus seiner Heimat- in die Hauptstadt flüchtete, widerwillig die Protektion des Vaters in Anspruch nimmt, zur Insubordination neigt, Frauengeschichten hat, dem übermäßigen Cognac-Konsum und auch sonst dem guten Leben zugeneigt ist. Zudem gerät er dadurch gleich im Zuge seines erstes Falls in allzu große Nähe zum organisierten Verbrechen, insbesondere in den Bannkreis von Johann Marlow – auch „Dr. Mabuse“ oder „Dr. M.“ –, der einen erheblichen Teil der als „Ringvereine“ getarnten Untergrundsyndikate leitet. Daß Rath von ihm halb willig, halb gezwungen Geld annimmt, gefährdet seine heikle Position noch weiter, weckt aber auch die Spannung in bezug auf die noch ausstehenden Romane. Denn unwillkürlich fragt man sich, was aus dieser Verbindung werden soll, wenn es nicht mehr nur wie in „Märzgefallene“ darum geht, daß die SA als „Hilfspolizei“ ihre privaten und politischen Rechnungen auch mit ein paar Berufskriminellen begleicht, sondern jene Maßnahmen greifen, durch die das NS-System in den 1930er Jahren den Boden für das organisierte Verbrechen ganz austrocknete.





Tom Tykwer verfilmt Romane von Volker Kutscher

Aus den Kriminalromanen von Volker Kutscher entsteht demnächst eine Fernsehserie für die ARD und Sky Deutschland. Ihr Arbeitstitel: „Babylon Berlin“. Produzent und Regisseur ist Tom Tykwer („Das Parfum“, „Lola rennt“) gemeinsam mit den Autoren und Regisseuren Achim von Borries und Hendrik Handloegten. Das Medienboard Berlin-Brandenburg fördert die Projektentwicklung mit 150.000 Euro.

Die Filmadaption der Bestsellerreihe will die rasanten Veränderungen im Schmelztiegel Berlin gegen Ende der Weimarer Republik und zu Beginn der NS-Zeit „komplett neu erzählen“, wie es auf der Internetseite des Verlages Kiepenheuer & Witsch heißt. Der auch international erfolgreiche Kino-Regisseur Tom Tykwer („Cloud Atlas“) sagt zu diesem Filmprojekt: „‘Babylon Berlin‘ ist ein breit angelegter, facetten- und figurenreicher Polizeifilm in historischem Kontext, der auf verblüffende Weise die deutsche und europäische Gegenwart spiegelt. Genrekino, epischer Atem und politische Spurensuche finden in diesem detailliert recherchierten und packenden Stoff auf einzigartige Weise zusammen.“ Die Dreharbeiten sollen Mitte dieses Jahres beginnen. Zunächst ist eine Staffel mit zwölf Folgen geplant; je nach Erfolg der Serie könnten weitere Staffeln folgen. Über die Besetzung der Hauptfiguren Gereon Rath und Charly Ritter ist noch nichts bekannt. (tha)

Weitere Informationen zu den Büchern: www.gereonrath.de

Volker Kutscher: Märzgefallene. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, gebunden, 602 Seiten, 19,99 Euro

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, kartoniert, 564 Seiten, 9,99 Euro

Volker Kutscher: Goldstein. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, kartoniert, 574 Seiten, 9,99 Euro

Volker Kutscher: Der stumme Tod. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, kartoniert, 542 Seiten, 9,99 Euro

Volker Kutscher: Der nasse Fisch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, kartoniert, 542 Seiten, 8,99 Euro